Beyond Protest. Interkultur Ruhr und Refugee Strike Bochum beim Co-Creation-Forum in Oberhausen
Beyond Protest. Interkultur Ruhr und Refugee Strike Bochum beim Co-Creation-Forum in Oberhausen
Wie kann es gelingen, nicht ÜBER andere zu sprechen, nicht FÜR sie, sondern MIT ihnen gemeinsam zu handeln? – Naja, man muss es eben machen. Zum Beispiel bei einer Konferenz bei kitev in Oberhausen. Vom 7. bis 9. September trafen sich im Leerstand am dortigen Hauptbahnhof Vertreter regionaler Institutionen und Organisationen mit internationalen Gästen aus unterschiedlichen europäischen Netzwerken, um über die Wiederbelebung von Leerständen, neue Formen der Zusammenarbeit und die Einbeziehung unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen zu diskutieren. Wir haben Akteure verschiedener Migrantenselbstorganisationen dazu eingeladen und mit Geflüchteten über deren Lebensumstände und Belange gesprochen.
Zum Auftakt der Veranstaltung begaben sich Gäste aus Finnland, Kroatien, Serbien, Slovenien, Montenegro und Lettland, die sich in den Initiativen „New Ideas for old Buildings“ und „Refugees for co-creative Cities“ engagieren, auf eine Busreise durch das westliche Ruhrgebiet. Mit dabei: einige Geflüchtete aus dem Umfeld von Refugee Strike Bochum und aus der Region. Gemeinsam ließen wir den Blick vom Dach des Gasometers Oberhausen über die Region schweifen, besuchten ein ehemaliges Kaufhaus in Mülheim, das dem Theater- und Kunstprojekt Ruhrorter als temporäre Spielstätte dient, und schlenderten in Begleitung von Akteuren des Medienbunkers durch Duisburg-Marxloh, um einen Eindruck der kulturellen Vielfalt der Ruhrgebiets zu gewinnen. Um kreative Umnutzungsmöglichkeiten leer stehender Immobilien und Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe von Geflüchteten ging es auch in den Diskussionen des Forums mit Podiumsgästen von Stadt, Land, verschiedenen Stiftungen und internationalen Experten, die simultan ins Englische bzw. zurück ins Deutsche übersetzt wurden.
Daneben gab es Workshops im Oberhaus, einem Hochhaus schräg gegenüber dem Hauptbahnhof, in dem sich kitev seit einigen Monaten engagiert, Projekte mit Bewohnern entwickelt, Wohnungen renoviert und neu Zugewanderten zur Verfügung stellt, die sich an der gemeinsamen Arbeit beteiligen. Zum Workshop mit dem Titel „Beyond Protest“, den wir zusammen mit Refugee Strike Bochum einberufen hatten, kamen Interessenten aus Essen, Oberhausen und Duisburg, um mehr über die Arbeit der Bochumer Flüchtlingsbewegung zu erfahren. Im März 2016 hatten Geflüchtete den Rathaus-Vorplatz in Bochum besetzt, um gegen die langen Wartezeiten für Asylanträge und die prekären Zustände in den Massenunterkünften zu protestieren. Die Initiative erhielt mit diesen und anderen Themen viel Unterstützung von einer breiten städtischen Öffentlichkeit. Die Einrichtung einer weiteren BAMF-Stelle in Bochum (zuvor wurden alle Fälle in Dortmund bearbeitet), regelmäßige Gespräche zwischen Geflüchteten, Unterstützern und der Stadtverwaltung und vieles anderes sind als Erfolge zu verzeichnen. Zuletzt erfuhren die Demonstrierenden viel Solidarität von über 20 Bochumer Organisationen und Vereinen in ihrer Kritik der Wohnsitzauflage des neuen Integrationsgesetzes, durch das bis zu 1.000 Flüchtlinge, die in den letzten Monaten in Bochum Fuß gefasst, eine Wohnung gefunden und begonnen haben, sich im neuen Umfeld zu akklimatisieren, gezwungen wären, die Stadt wieder zu verlassen in Richtung der Orte ihrer ersten Registrierung in Deutschland. Die Stadt Bochum hat den Vollzug derweil bis Dezember ausgesetzt.
Die Arbeit von Refugee Strike Bochum ist erfolgreich, bleibt aber wie die anderer Geflüchtetenselbstorganisationen trotzdem extrem prekär. Das Engagement bedeutet unzählige Stunden ehrenamtlicher Arbeit, die Ressourcen sind begrenzt, und die Aufgaben vielfältig und hochfrequent. Umso wichtiger erscheint die Anbahnung größerer strukturbildender Maßnahmen. Was können wir als Interkultur Ruhr dazu beitragen, einen konstruktiven Dialog jenseits der akuten politischen Auseinandersetzungen zu unterstützen? Ein erster Schritt könnte die regionale und überregionale Vernetzung aktiver Initiativen sein, die ansonsten im Arbeitsalltag kaum umzusetzen ist. Die Schwierigkeiten, die in Bochum artikuliert wurden, gibt es auch andernorts, wie u.a. in Bezug auf die angesprochene Wohnsitzauflage deutlich wird. In Essen betrifft dies etwa 2.500, in Gelsenkirchen etwa 2.000 Menschen. Ein breiter Diskurs darüber beginnt. Doch mit wem wird wie darüber gesprochen? Wie lässt sich eine gesellschaftliche Teilhabe und eine stabile Interessensvertretung über spontanen Protest hinaus etablieren? Wie sehen Kommunikations- und Handlungsräume aus, die sinnvolle Lösungen in den Feldern Wohnen / Arbeit / Repräsentation kooperativ hervorbringen? Im Rahmen des Co-Creation-Forums in Oberhausen stellten wir eine Plattform zur Verfügung, auf der unterschiedliche Migrantenselbstorganisationen ihre Erfahrungen aktiven bürgerschaftlichen und politischen Engagements austauschen, voneinander lernen und möglicherweise ihre Kräfte bündeln können.
Dass sich behördliche Schieflagen auch langfristig negativ auf eine Bevölkerungsgruppe auswirken können und dass sich Selbstorganisation und Diskussionsbereitschaft lohnen kann, machten Ahmad Omeirat und sein Verein Laissez Passer aus Essen deutlich. Die libanesische Community im Essener Norden steht seit Jahren im Fokus einer medialen Inszenierung zwischen einer angeblich inhärent kriminellen Clankultur auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Feststellung, dass die jahrzehntelange „Duldung“ bzw. Nichtanerkennung von etwa 1.000 Menschen libanesischer Herkunft die Problemlagen aufgrund einer hausgemachten Perspektivlosigkeit erst entstehen lässt (Berichterstattung im Deutschlandfunk, hier und auf derwesten). Mit der Neugründung des Vereins Laissez Passer bieten Ahmad Omeirat, Stadtrat für Die Grünen in Essen, und seine Mitstreiter eine Anlauf- und Beratungsstelle für libanesischstämmige Menschen mit befristetem Aufenthaltsrecht an, beraten aber auch unabhängig von ihrer Herkunft Menschen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.
Ergebnisse dieses kleinen aber intensiven Austauschs zwischen Akteuren aus Bochum, Essen, Duisburg und Oberhausen war zunächst ein Treffen zwischen Bochumer Akteuren und der studentischen Flüchtlingshilfe der Uni Duisburg-Essen und dem später gegründeten Refugee Strike Duisburg, sowie die Planung einer Gesprächsrunde mit Geflüchteten in Oberhausen, um Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus über ihre grundsätzlichen Rechte aufzuklären, sie zu ermächtigen, selbst dafür einzutreten und Mittel eines konstruktiven Austausches mit der Aufnahmegesellschaft zu erproben.
Dass Integration nicht nur über Politik und Planung geschieht, dass Kultur einen Freiraum bieten kann, solche Prozesse temporär oder auch dauerhaft sinnvoll zu unterstützen, wurde mit den Aktivitäten der Refugees’ Kitchen deutlich, die als Gastgeber für das Abendprogramm fungierte. Der Container, den kitev als Pilotprojekt zusammen mit Geflüchteten in Oberhausen zu einer mobilen Küche umgebaut hat, war gerade rechtzeitig fertig geworden, hatte einige Tage zuvor auf der Zeche Zollverein Premiere gefeiert und hat seither bereits hunderte Menschen verköstigt, mit Speisen aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea. Aktuell ist der Delikatessenstand unserer Freunde beim Theaterfestival FAVORITEN 2016 in Dortmund zu finden.
Musik gab es unter anderem vom WorldBeatClub. Der Verein Tanzen und Helfen e.V. leistet in Bochum herausragende Integrationsarbeit durch die ehrenamtliche Organisation von Begegnungsfesten, Konzerten und Benifizveranstaltungen sowie dem Featuring von musikalischen Talenten, wie die syrischen Musiker Aeman Hlal und Abdo Khalil ('Flamenco Sirio'), Ahmad Balhawan oder Tarik Thabit mit Unterstützung von Tobias Bülow aus Witten, die auf dem Museumsbahnsteig am Oberhausener Hauptbahnhof spielten. Danach versetzte die Band Die Freedes, ebenfalls aus Bochum angereist, den Bahnhof in Schwingung, mit einer energiegeladenen Mischung aus Surf Funk und Psychedelic Rock. Vielseitige architektonische, stadtplanerische, politische und nicht zuletzt persönliche Gespräche zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und das gemeinsame Feiern machten definitiv Lust auf mehr: ein unvergessliches Erlebnis und ein praktisches Modell für die Möglichkeiten eines neuen interkulturellen Miteinanders, eines Zusammenlebens und -arbeitens in einer co-kreativen Gesellschaft.