Ein Tag in Hustadt – Ausblick Interkultur Ruhr 2017
Ein Tag in Hustadt – Ausblick Interkultur Ruhr 2017
Das Stadtteilbüro von HUkultur an einem Vormittag im Januar. Vorbereitungsdüfte und -geklapper aus der Küche mischen sich mit der Musik im Gastraum, zusammengestellt vom Bochumer Label Kalakuta Soul Records. So beginnt er, unser “Tag in Hustadt”. Nach und nach trudeln zahlreiche Gäste, von Kooperationspartner*innen über Künstler*innen und Teilnehmer*innen von Projekten bis zu Quartiersbewohner*innen ein, die unserer Einladung gefolgt sind, den Tag miteinander zu verbringen und mehr über das Programm von Interkultur Ruhr zu erfahren. Der Ort ist exemplarisch gewählt für unsere Arbeit, denn Interkultur Ruhr ist eine mobile und dezentrale Organisation, die immer eng mit lokalen Partnern zusammenarbeitet, in diesem Fall im Projekt „Insel des guten Lebens“ in der Bochumer Hustadt.
Matthias Köllmann, Kulturmanager und Geschäftsführer von HUkultur, dem jungen Sozialunternehmen, das vom Förderverein Hustadt getragen wird und sich am Brunnenplatz als Bürgertreff und Quartiersmanagement etabliert hat, begrüßt die Gäste. Die Hustadt-Siedlung, die sich seit ihrer Errichtung in den sechziger Jahren zu einem Zuhause für Menschen mit den verschiedensten Hintergründen entwickelt hat, ist beispielhaft für das interkulturelle Leben im Ruhrgebiet. In der Hustadt leben Menschen aus über 50 Nationen auf engem Raum zusammen.
Im Rahmen des Programms „Stadtumbau West“ wurden seit 2008 viele bauliche, soziale und kulturelle Maßnahmen umgesetzt, die zur Verbesserung der Lebensqualität beigetragen haben. HUkultur kümmert sich darum, die geschaffenen Strukturen zu erhalten, bewohnerschaftliches Engagement zu fördern und neue Perspektiven zu entwickeln. Mehrere Quartiershausmeister sind täglich in der Hustadt unterwegs. Faruk Yildirim, der hier aufgewachsen ist, arbeitet inzwischen als Quartiersmanager, und in der multikulturellen Küche, die derzeit zu einem professionellen Catering-Service ausgebaut wird, haben Semsihan Aldur, Nesrin Yildirim und Tanhead Mohamadeya eine feste Anstellung gefunden.
Wir genießen die Gastfreundschaft, fühlen uns willkommen und freuen uns über das große Interesse, das uns auch von den Anwohner*innen entgegengebracht wird. Unter die Gäste hat sich Christian Uhlig gemischt, Vorstand des Fördervereins Hustadt e.V., der sich seit Jahrzehnten für das Quartier engagiert. Er betont, dass es sich für eine interkulturelle Initiative wie die unsere lohnt, sich einem Ort zu widmen, Berührungspunkte zu suchen und auszubauen. Das wollen wir tun und berichten zunächst, was Interkultur Ruhr 2017 anzubieten hat, wo wir bereits Anschluss gefunden haben und aktiv sind, und was wir im weiteren vor haben:
Förderfonds, Netzwerk, kuratiertes Programm
Zu den laufenden Aktivitäten gehört der Förderfonds Interkultur Ruhr, mit dessen Hilfe im letzten Jahr über 40 Projekte von Institutionen und freien Initiativen der Region realisiert wurden, und gleich zu Beginn der heutigen Veranstaltung gibt es eine Neuigkeit zu verkünden: Der Förderfonds wird 2017 neu aufgelegt. Im Augenblick wird eine Dokumentation der bisherigen Projekte erstellt, die Förderkriterien werden überarbeitet, und die neue Ausschreibung soll im März erfolgen.
Auch die Netzwerkarbeit, die im letzten Jahr begonnen wurde, wird fortgesetzt, zuletzt beim Arbeitstreffen zum Thema „Flucht und Migration im Kulturbetrieb II“ am 16. Januar 2017 im Bahnhof Langendreer, Bochum. Viele Akteure aus unterschiedlichsten Bereichen arbeiten im interkulturellen Feld zusammen und sind mit vielfältigen und komplexen Problemstellungen konfrontiert. Ein kontinuierlicher Austausch in der interkulturellen Kulturarbeit soll helfen, die eigene Praxis kritisch zu hinterfragen, aus den Erfahrungen zu lernen und sich untereinander besser zu koordinieren. Das nächste Netzwerktreffen ist im Mai geplant.
Einen dritten Schwerpunkt der Projektarbeit von Interkultur Ruhr bildet das kuratierte Programm in Form von künstlerischen Recherchen zu verschiedenen Themen an unterschiedlichen Orten im Ruhrgebiet. Im Zuge mehrmonatiger Residenzen entwickeln eingeladene Künstler*innen und Künstlergruppen Projekte, die 2017 und in den Folgejahren umgesetzt werden sollen. Derzeit umfasst das Programm zehn künstlerische Recherchen und Kooperationen, die verschiedenste historische und gegenwärtige, lokale und globale Aspekte von Migration beleuchten. Ein Überblick über das Programm „Uncommon Ground“ findet sich hier.
Globale Subkulturen
Gleich drei Projekte, deren konkrete Gestalt sich bereits abzeichnet, können wir heute mit Datum ankündigen. Eines davon beschäftigt sich mit interkulturellen Praktiken in der Populärmusik, in denen das zeitgenössische Ineinanderfließen verschiedener Ästhetiken deutlich wird. Im digitalen Zeitalter entstehen heute überall global kleinteilig vernetzte Subkulturen, die sich abseits der üblichen Verwertungsstrukturen transnational organisieren und von Deutungshoheiten der europäischen Musikindustrie emanzipieren. Avril Ceballos vom chilenisch-argentinisch-deutschen Label Cómeme ist im Ruhrgebiet zu Gast, um die hier wachsenden postmigrantischen subkulturellen Phänomene zu untersuchen und mit weltweiten Akteuren zusammenzubringen. In verschiedenen Formaten, von Workshops und Gesprächen bis zu Live-Konzerten und Club-Abenden in Zusammenarbeit mit dem Bochumer Plattenlabel Kalakuta Soul, das von Guy Dermosessian geleitet wird, und mit diversen Communities gehen wir der Frage nach, welche gesellschaftlichen Bedingungen diese aktuellen Praktiken voraussetzen, welche Möglichkeiten einer inter- bzw. hyperkulturellen Kommunikation sie eröffnen und welche neuen Formen von Identität sich in ihnen ausdrücken.
Die erste „Listening Session“ findet am 24. März in der Goldkante, Bochum, statt. Der Club-Abend mit Jannis Stürtz (Habibi Funk, Berlin) und Ernesto Chahoud (Beirut Groove Collectives) beleuchtet die Ambivalenz der zeitgenössischen Praxis des Schallplattensammelns, die einerseits zur Repräsentation außereuropäischer musikalischer Entwicklungen im Pop- und Clubkontext beiträgt, andererseits wiederum neokolonialistische Tendenzen aufzuweisen scheint, die es kritisch zu hinterfragen gilt. Weitere Veranstaltungen zu verschiedenen Themen sind an unterschiedlichen Orten im Ruhrgebiet geplant.
Afro-Tech
Ganz groß wird es im Oktober 2017 in Dortmund mit der Ausstellung, Konferenz und Projektwoche „Afro-Tech and the Future of Re-Invention“, die im Dortmunder U und an verschiedenen weiteren Orten im Stadtgebiet in Koproduktion mit dem Hartware MedienKunstVerein und in Kooperation mit Africa Positive e.V., Schauspiel Dortmund, medienwerk.nrw und weiteren Partnern realisiert wird. Afro-Tech interessiert sich für Erfinder*innen, Kulturproduzent*innen und Künstler*innen in verschiedenen afrikanischen Regionen, die Technologien nach anderen – nicht-westlichen – Standards imaginieren, propagieren, entwickeln und verwenden.
Die Ausstellung, die am 20. Oktober 2017 eröffnet wird, fragt danach, wie interkulturelle Dialoge, alternative Erzählungen und ein postkoloniales Nachdenken über Technologie aussehen könnten: Welches Potential trägt dieses Denken für Emanzipation und Empowerment in der aktuellen Debatte über die Konsequenzen von Digitalisierung und Vernetzung in sich? Welche Blicke und Bedürfnisse bedingen dieses Interesse? Und wie könnte eine polyzentrische, vernetzte Welt der Zukunft aussehen, in der sich die technologischen Zentren der Welt nicht mehr nur im „Westen“ befinden, sondern auch im globalen Süden? Gefördert wird das Projekt im Fonds TURN der Kulturstiftung des Bundes.
Insel des guten Lebens
Ein weiteres Beispiel für die kooperative Arbeit von Interkultur Ruhr – und der aktuelle Anlass für den Besuch in der Bochumer Hustadt – ist das Projekt „Insel des guten Lebens – Wohlbefinden und Migration in Bochum-Querenburg“, das hier beim lokalen Partner HUkultur angesiedelt ist. Das Projekt wird gefördert vom Mercator Research Center Ruhr und koproduziert durch Urbane Künste Ruhr.
Wissenschaftler*innen der Global Young Faculty, die interdisziplinär untersuchen, wie sich Migrationserfahrungen auf das persönliche Wohlbefinden auswirken, arbeiten mit dem Architekten Kerem Halbrecht, der Szenografin Anna Hentschel und dem Spiele-Entwickler Sebastian Quack zusammen, um akademische Wissensbestände mit dem realen Leben zu verknüpfen, eine Kommunikation quer durch die Gesellschaft anzuregen und vor Ort eine temporäre Plattform für Auseinandersetzung und Dialog zu entwickeln. Migration und Zuflucht werden dabei nicht als Ausnahme, sondern als zentraler Bestandteil einer Suche nach dem guten Leben im 21. Jahrhundert begriffen. Vom 20. bis zum 23. April 2017 wird in der Hustadt ein Symposium und Festival mit Gesprächen, Vorträgen, Rundgängen und Installationen stattfinden, das auf unkonventionelle Weise ein Wissen vermittelt, das in Zukunft für alle relevant sein könnte.
Die künstlerische Vermittlung will den Teilnehmer*innen einen spielerischen Zugang zu ihrer Umwelt eröffnen. Dabei soll eine Verbindung zwischen Wissenschaft, Stadt und Kunst im öffentlichen Raum entstehen. An mehreren Orten im Quartier werden u.a. Interview-Auszüge aus den Umfragen der Wissenschaftler*innen hörbar und Geschichten aus dem Quartier als Film-Collage sichtbar gemacht. Besucher*innen und Bewohner*innen können spielerisch in Kontakt treten, das Viertel erkunden und gemeinsame Erlebnisse schaffen, zum Beispiel beim Umbau eines Containers, der vom Jugendamt für nachbarschaftliche Aktivitäten zur Verfügung gestellt wurde. Viele weitere performative Aktionen sind derzeit in Entwicklung.
Hustadt-Drift
Bereits heute bekommen wir einen Vorgeschmack auf das Festival im April: Im Anschluss an das Gespräch zum Projekt „Insel des guten Lebens“ sind die Gäste des „Tags in Hustadt“ eingeladen, gemeinsam einen experimentellen Stadtrundgang, genannt „Drift“, durch das Viertel zu erleben. „Es geht um einen Modus des Austauschs, bei dem sich Menschen gegenseitig zutrauen, die Gruppe anzuführen“, erklärt Sebastian Quack. „Das gemeinsame Erlebnis beruht gerade darauf, dass nicht alles über Sprache und Kopf funktioniert.“
Zehn Minuten später setzt sich eine bunt gemischte Gruppe von ca. 30 Besucher*innen und Bewohner*innen, ausgestattet mit Funkkopfhörern, in Bewegung. Alle hören den gleichen Soundtrack, der vom Sender, den Quack in der Tasche mit sich führt, übertragen wird. Die Playlist wurde im Vorfeld aus Einreichungen der Teilnehmer*innen zusammengestellt. Ein junger Mann erhebt die Hand und führt die Gruppe zu einem kleinen Abenteuerspielplatz zwischen den Hochhäusern, wo einer nach dem anderen im Hip-Hop-Groove die Rutsche hinuntergleitet. Eine andere Person übernimmt per Handzeichen die Führung, alle umrunden eine Tischtennisplatte und verschwinden kurz darauf im Wald. Klassiker der Rockmusik wechseln mit arabischen Instrumentalstücken, Popsongs oder Freejazz-Improvisationen ab. Wer hat wohl welchen musikalischen Beitrag zu unserer Reise bereitgestellt? Unter wechselnder Führung durchqueren wir die Vorgärten einer Reihenhaussiedlung, verweilen kurz in einem Hinterhof, passieren eine geschlossene Gastwirtschaft, winken den Kindern zu, die sich am Fenster eines Kindergartens versammelt haben, laufen durch eine Tiefgarage und kommen auf einem großen betonierten Platz mit Sitzbänken heraus, wo wir kurz Rast machen. Nach etwa einer Stunde erklimmen wir schließlich einen kleinen Hügel zwischen den Hochhäusern mit den bunten Balkonen, auf dem einige zu tanzen beginnen, bis schließlich die ganze Gruppe im Rhythmus schwingt.
Als wir die Kopfhörer wieder absetzen, haben alle ein Lächeln im Gesicht, teilweise erschöpft von der sportlichen Betätigung, und nach einer langen Pause dauert es etwas, bis die Gespräche wieder einsetzen – wie nach einem Kinobesuch, dessen Eindrücke man erst noch verarbeiten muss, bevor man in den Alltag zurückkehrt. Auf diese Weise hat uns der Drift eine Vorstellung davon vermittelt, wie man seine Umgebung kollektiv ohne den gewohnten diskursiven Rahmen anders wahrnehmen und erschließen kann, im vorübergehenden Ausnahmezustand, als Ausblick auf die „Insel des guten Lebens“.