Ein Jahr Interkultur Ruhr
Ein Jahr Interkultur Ruhr
Was bedeutet Interkultur heute im Ruhrgebiet? Als Themenfeld, als Arbeitsbereich, als alltägliche Lebenspraxis? Wie leben wir hier und heute, in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft? Und welche Rolle darin kann und soll eine regionale Institution spielen, die sich mit diesen Fragen beschäftigt?
Zu Beginn des Jahres 2016 wurde Interkultur Ruhr als gemeinsame Initiative des Regionalverbands Ruhr (RVR) und des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen der Nachhaltigkeitsvereinbarung zur europäischen Kulturhauptstadt Ruhr.2010 ins Leben gerufen. Ein kleines Team freier Mitarbeiter*innen ging im Januar an die Arbeit, zunächst mit der Vorstellung von zwei Programmbereichen: einem Förderfonds zur Stärkung der Willkommenskultur in den Kommunen und Kreisen des Ruhrgebiets, das für kulturelle Institutionen, Vereine, Initiativen und freie Akteure ausgeschrieben wurde, sowie einem kuratierten Programm, das mit künstlerischen Recherchen und lokalen Ko-Produktionen ansetzte und über zwei Jahre wachsen soll.
So machten wir uns auf den Weg, das interkulturelle Feld zu erkunden, auf eine Reise durch die Städte des Ruhrgebiets, zu Besuch bei verschiedensten lokalen Partnern, von Migrantenselbstorganisationen, interkulturellen Akteuren, Aktivistengruppen und freien Initiativen über kulturelle Institutionen bis hin zu runden Tischen der Kommunalpolitik. Wir stellten uns vor, lernten uns kennen, hörten zu und lernten viel über verschiedene Alltagsrealitäten. Oft hat es sich als notwendig erwiesen, mitgebrachte Arbeitsgewohnheiten zu revidieren, wenn sie mit dem Umfeld nicht kompatibel erschienen. Die Bestandsaufnahme ließ deutlich werden, dass es einen ungeheuren Reichtum an Aktivitäten auf unterschiedlichen Ebenen gibt, und dass die Netzwerkarbeit, die Frage nach effektiven Kooperationsformen einen wesentlichen Bestandteil unserer Arbeit darstellen würde.
Als mobile und dezentrale Organisation, die prinzipiell nur in Kooperation mit lokalen Akteuren in Erscheinung tritt, sind wir manchmal schwer zu greifen, doch unsere Aktivitäten lassen sich nachvollziehen: Seit Mitte des Jahres gibt es eine Website, auf der wir darüber berichten, was wir tun, worüber wir nachdenken oder was wir erlebt haben. Außerdem laden wir interessante Stimmen von nah und fern ein, ihre Reflexionen zu teilen, um eine Plattform zu bilden, auf der und über die sich verschiedene Ressourcen vernetzen können. Der permanente Dialog mit verschiedenen lokalen Interessensgemeinschaften und zahllosen Einzelkämpfern, ebenso wie mit Verwaltung und Politik, die Bewegung an den Grenzen zwischen informellem und institutionellem Handeln hat dazu geführt, dass wir Ende 2016 bereits von vier Arbeitsbereichen sprechen: Förderfonds, kuratiertes Programm, Netzwerkarbeit und Institution-Building.
Der Förderfonds hat sich als großer Gewinn für unsere Arbeit herausgestellt. Dort sind viele Dinge geschehen, die wir in ihrer Diversität niemals hätten initiieren können. Dafür braucht es viele verschiedene Autor*innen mit unterschiedlichen Ansätzen und Strategien. Der Förderfonds hat uns ermöglicht, innerhalb des Programms nicht mehr zwischen fremd und eigen zu unterscheiden. Das zu verstehen – mit allen Konsequenzen, die diese Haltung für ein mögliches Zusammenleben und -arbeiten haben kann – war eine Herausforderung und zugleich ein Glückserlebnis dieses Jahres. Um besser nachvollziehen zu können, was im Einzelnen in den über 40 soziokulturellen Projekten passiert ist, die sich großenteils mit der aktuellen Situation von Geflüchteten befassen, haben wir eine qualitative kritische Dokumentation beauftragt, die uns ermöglichen soll, die Praxis und Ethik unserer Förderung für das kommende Jahr anzupassen, damit sie möglichst allen Beteiligten etwas bringt. Ab Anfang 2017 wird diese kritische Dokumentation zum Download auf unserer Website zur Verfügung stehen.
Die initiierten Projekte, für die wir unter dem Arbeitstitel „Uncommon Ground“ zunächst Künstler*innen und Wissenschaftler*innen verschiedener Sparten und Fachbereiche zu einer Recherchephase eingeladen haben, zeigen sich in einer ersten Retrospektive als echter Querschnitt der Idee von Interkultur in verschiedenen Arbeits- und Lebensbereichen: Von Bildung (cobratheater.cobra) über Industrie- und Regional- als Globalgeschichte (Heba Amin), Repräsentation und Stigmatisierung im Alltag (Wachter / Jud), Arbeit und Architektur (Gigo Propaganda), Kunst und Teilhabe (Thomas Lehmen), bis hin zu interkultureller Populärmusik (Cómeme & Guy Dermosessian) oder Migration als kapitalistisches Projekt (knowbotiq & Nina Bandi). Die mikrolokalen Recherchen konzentrieren sich durchweg auf die aufmerksame Betrachtung überschaubarer lokaler Zusammenhänge. Einige Resident*innen stellen daraus präzise Folgefragen und forschen weiter. Andere ziehen erste Konsequenzen und schlagen eigene künstlerische Projekte vor, um neue Realitäten zu setzen.
Hinzu kommen die Ko-Produktionen, in die wir derzeit involviert sind: Das „Oberhaus“, ein Langzeitprozess, initiiert von kitev in Oberhausen, ist ein Experiment des aktiven Zusammenlebens in einem Hochhaus und eine Art Gegenmaßnahme zur Vereinzelung und Segmentierung der Gesellschaft. Die Ausstellung “Afro-Tech” in Zusammenarbeit mit dem HMKV wirft einen Blick auf afrofuturistische Utopien und technologische Kulturen in verschiedenen afrikanischen Regionen und bringt diese in Kontakt mit lokalen Dortmunder Initiativen wie Africa Positive. Das Projekt "Insel des guten Lebens" in der Bochumer Hustadt schließlich, eine Kooperation mit Wissenschaftler*innen der Global Young Faculty, den Künstler*innen Kerem Halbrecht, Anna Hentschel und Sebastian Quack, HUkultur und Urbane Künste Ruhr, moderiert aktiv zwischen Wissenschaft und Leben und versucht sich an der Veröffentlichung eines Wissens, das jeder in sich trägt: wie man sich wohlfühlen kann.
An der Netzwerkarbeit sind wir im Laufe des Jahres gewachsen. Durch sie haben wir viele Menschen getroffen, die sich z. T. seit Jahrzehnten in der interkulturellen Kulturarbeit engagieren, und von ihnen haben wir viel gelernt. Neben den zahllosen Einzelgesprächen haben wir zwei sehr unterschiedliche Netzwerktreffen erlebt: Beim ersten zu Beginn des Jahres waren sozusagen selber Gäste, die sich als neue Akteure einer großen Runde vorstellen durften. Beim zweiten waren wir dann Gastgeber*innen, zusammen mit dem Kulturzentrum Bahnhof Langendreer in Bochum – auch als Resultat aus den Begehren, die zuvor an uns herangetragen worden waren, stärker als Impulsgeber aufzutreten. Aus Gesprächen und Auseinandersetzungen im Laufe des Jahres haben wir versucht, besondere Dringlichkeiten herauszufiltern, um sie bei dieser Gelegenheit gemeinsam zu besprechen. Unter dem Motto „Miteinander arbeiten – aber wie?“ wurden Praktiken der interkulturellen Kulturarbeit zu den Themen Partizipation, Entlohnung, Ziele und Aufgaben erörtert. Dabei hat sich noch einmal gezeigt, wie komplex das Feld, wie breit gefächert Probleme und Fragen sind, inwieweit Bedarfe und Bedürfnisse sich unterscheiden oder auch ähneln. Nun geht es darum, Impulse aus dem letzten Treffen zu verstetigen. Dazu müssen wir neue Partnerschaften eingehen. Ganz organisch kann sich so eine Form herausbilden als Institution, die sich aus der Interaktion mit unseren Kolleg*innen ergibt.
Ein Jahr Interkultur Ruhr. Was haben wir herausgefunden? In der Arbeit mit Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und mit Fördergeber*innen, mit Bürger*innen, mit Aktivist*innen, mit Freund*innen und im Team, in der Arbeit mit sozialen und kulturellen Einrichtungen, mit Institutionen, mit Verwaltungen, mit der Politik stellt sich immer wieder die Frage, wie Kunst, Politik und Leben tatsächlich zusammenhängen könnten – und wo man diese Bereiche unterscheiden muss. Es zeigt sich, dass Interkultur als eine Praxis, in der Diversität und Differenz anerkannt werden, in der aber auch nach Möglichkeiten der Koexistenz und Kollaboration gesucht wird, sich wie ein roter Faden durch verschiedene Sparten, Genres und gesellschaftliche Sphären zieht. Wir sind differenzierter geworden in der Benennung der eigenen Arbeit. Wir sondieren, wie und wo sich die einzelnen Bereiche überschneiden, wo sie im Widerspruch zueinander stehen, und welche Bedingungen sie jeweils brauchen, um sinnvoll agieren zu können. Dafür sind wir weiterhin auf Ihre und eure Mitwirkung angewiesen, um gemeinsam etwas zu schaffen, das alle Beteiligten weiterbringt.
In diesem Sinne laden wir euch ein, das nächste Jahr mit uns in Bochum zu beginnen:
Am 16. Januar 2017 gemeinsam mit den Kolleg*innen von Ruhr International, Bahnhof Langendreer, Zukunftsakademie NRW, Kulturbüro der Stadt Bochum und Integrationszentrum der Stadt Bochum mit einem praktischen Arbeitstreffen zum Thema "Flucht und Migration im Kulturbetrieb II".
Und am 17. Januar 2017 mit einem “Tag in Hustadt”, wo wir das Programm Interkultur Ruhr 2017 und das dort angesiedelte Kooperationsprojekt „Insel des guten Lebens“ vorstellen.
Wir bedanken uns bei allen, die uns im Jahr 2016 empfangen, begleitet und geholfen haben, uns in der interkulturellen Landschaft des Ruhrgebiets zu orientieren. Die Herausforderung, diese Vielfalt des Neben- und Miteinanders wahrzunehmen und zu begreifen, bleibt weiter im Fokus unserer Arbeit. Im kommenden Jahr wollen wir den Austausch intensivieren, gemeinsame Anliegen und Projekte konkretisieren und weitere Schritte unternehmen, der Interkultur im Ruhrgebiet mehr Sichtbarkeit und vielleicht auch neue Perspektiven zu verschaffen. In diesem Sinne wünschen wir einen guten Start in ein neues interkulturelles Jahr 2017,
Team Interkultur Ruhr
Yvonne Giebel, Johanna-Yasirra Kluhs, Jola Kozok, Guido Meincke, Fabian Saavedra-Lara, Lena tom Dieck, Patrick Ritter