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FOR THE RECORD #4: Kornelia Binicewicz

Kornelia Binicewicz. Grafik: Fadi Abdelnour

FOR THE RECORD #4: Kornelia Binicewicz

von: 
Guy Dermosessian & Eva Busch

OFF THE RECORD ist eine Reihe von Listening Sessions, die sich mit globalen, außereuropäischen Musik- und Subkulturen auseinandersetzt. Sie ist 2017 aus einer Initiative von Interkultur Ruhr, Kalakuta Soul Records und der Labelmanagerin und Residentin im Programm von Interkultur Ruhr Avril Ceballos (Cómeme) hervorgegangen und wird in Kooperation mit dem atelier automatique fortgeführt.

Unter dem Titel FOR THE RECORD stellen Guy Dermosessian (Kalakuta Soul Records) und Eva Busch (atelier automatique) die Gastmusiker*innen und -DJs mit Interviews und fantastischen Mixtapes persönlich und musikalisch vor.

Die thematische Bandbreite der Veranstaltungsreihe reicht von der Sichtbarmachung vergessener oder marginalisierter Stimmen der Musikgeschichte bis hin zur Diskussion aktueller popkultureller Phänomene. Dabei spielt eine kritische Sensibilität für die sozialen und politischen Rahmungen dieser Entwicklungen eine große Rolle, vor allem in Hinblick auf die historischen Dimensionen postkolonialer gesellschaftlicher Verfasstheiten und zeitgenössischer Deutungshoheiten, Verwertungs- und Ausbeutungslogiken im Musikbereich.

„Ladies on Records“ heißt das Projekt von Kornelia Binicewicz, die seit 2015 in Istanbul lebt, um Musik von Frauen aus der Türkei und dem Mittleren Osten zu erforschen. Die polnische Kultur-Anthropologin war am 4. September 2018 bei einer Listening Session der Reihe OFF THE RECORD zu Gast. Exklusiv für diesen Beitrag hat sie einen speziellen Mix produziert, in dem sie türkische und griechische Lieder von Sängerinnen aus den 1970ern zusammenstellt, die eine gemeinsame Geschichte erzählen:

 

 

Wie würdest du die Musik beschreiben, die du spielst und mit anderen teilst? Wie hat sie sich über die Jahre entwickelt?

Meine Musikauswahl ist ein Ergebnis meiner kulturellen und musikalischen Forschung. Ich recherchiere hauptsächlich Musik von Künstlerinnen aus den 60ern, 70ern und 80ern. Meine DJ-Sets ehren ihre Kunst und ihr Leben und geben ihnen so viel Raum und Aufmerksamkeit wie möglich. Ich glaube, dass im Laufe der Zeit zu viele Künstlerinnen übersehen, objektifiziert oder vergessen wurden. Natürlich spiele ich auch Musik, die von Männern gemacht wurde. Sängerinnen treten in den meisten Fällen mit einer Band mit männlichen Mitgliedern auf – es geht mir nicht darum, Männer auszuschließen, sondern auf Frauen und ihren Beitrag zur globalen Musik aufmerksam zu machen und sie hervorzuheben. Seit 2015 konzentriere ich mich auf Musik aus der Türkei und auf türkische Sängerinnen. Ich wollte die Frauen, die die türkische Musikszene aktiv mitgestaltet haben, verstehen und in ein neues Licht rücken. Zu dem Zeitpunkt fokussierten sich die Erzählungen der Digger*innen und DJs, die türkische Musik aus den 70ern erforschten, hauptsächlich auf die männlichen Helden der psychedelischen Musik. Diese Geschichte wollte ich vervollständigen.
Die Reise brachte mich zwangsläufig zu Musik aus anderen Regionen – Griechenland, Tunesien oder Polen. In meinen Sets hörst du Musik die von Frauen aus Ghana, Iran, der Türkei, der Slowakei, Ungarn und Polen... Über die Jahre hinweg wurden meine Sets stiltechnisch diverser, durch den sichtbaren Einfluss von Musik aus der Ära der Synthesizer und elektronischen Experimente.

Du siehst dich als DJ. Was bedeutet das für dich? 

DJ zu sein bedeutet für mich, zu teilen und Geschichten zu erzählen. Genau genommen habe es nicht darauf abgesehen, DJ zu werden. Ich habe darauf geachtet, mich eher als Selektor anstatt als DJ zu bezeichnen. Ich war naiv und hab’ mich sehr darüber gefreut, die Musik zu teilen, in die ich mich verliebt hatte. Ich habe mit Mixtapes angefangen, ging über zu Musik-Sammlungen und Sound-Vorträgen und landete am Ende bei DJ-Sets. Es hat sich für mich viel besser angefühlt, zu schreiben und zu kuratieren, als für ein Riesenpublikum zu spielen. Irgendwann wurde es aber genauso wichtig, durch DJ-Sets zu teilen. Zum Glück konnte ich meine Fähigkeiten als Geschichtenerzählerin mit dem Auflegen kombinieren, weil viele der Gigs so gestaltet wurden, dass zuerst der Sound-Vortrag gespielt wurde und dann das DJ-Set. Für mich war es die perfekte Balance. Ich habe viel von den wunderbaren DJs gelernt, die ich getroffen habe – von der technischen Seite des Auflegens bis hin zur Kunst, Musik auszuwählen. Über die Jahre habe ich gemerkt, dass Geschichtenerzählen genau mein Ding ist. Ich bin seit 2015 auf dieser Reise und möchte, dass sich Leute mit mir zusammen auf den Weg machen.

Inwiefern reagiert deine Arbeit auf bestehende und hegemoniale Gewohnheiten des Musikhörens und -konsums?

Ich denke, dass meine Arbeit in einer Nische ist. Es geht nicht nur ums Medium, da ich ja nur Platten spiele. Es geht auch um den Stil – ich liebe es, tief zu graben, aber ich liebe es auch tolle Songs kennenzulernen, manchmal sogar welche aus dem Mainstream der 70er und 80er aus den Ländern, die ich erkunde. Ich suche nicht nur nach seltener und unbekannter Musik. Ich bin hinter den Eindrücken und Gefühlen her, die die Musik und die Künstler*innen uns wecken. Mein Ziel ist es nicht, die „Erste“ zu sein, die etwas entdeckt und ein „in Vergessenheit geratenes Prachtstück“ anzukündigen. Vor uns gab es immer jemand anderes, weil die Musik gelebt und sich verbreitet hat, bevor wir es gemerkt haben. Dass Musik heutzutage digital konsumiert wird, stört mich mittlerweile nicht mehr so sehr. Alles hat Vor- und Nachteile. Aufgrund des digitalen Zeitalters konnten wir uns viele Alben anhören, die wir überhaupt nicht kannten (Rückgriffe auf YouTube oder digitale Neuauflagen von alter Musik, die auf Streaming-Diensten verfügbar sind). Was mich weiterhin enttäuscht, ist, dass das Musikhören in der heutigen Zeit von anderen Kontexten der Musik getrennt wird. Digitale Musik-Dienste haben das Erlebnis, Musik zu teilen und sie zu empfangen vereinheitlicht. Das Bildmaterial, die Geschichte und der Covertext sind weg. Es gibt nur ein winziges Vorschaubild, das zu zahlreichen Streams oder Downloads führt. Ich finde das traurig, weil Musik für mich mehr als ein Sound ist.

Wie stellst du dir einen Ort vor, an dem Leute zusammenkommen und Musik zelebrieren können? Gab es oder gibt es Orte, an denen du diese Vision erlebst oder erlebt hast?

Ich hatte fantastische Erfahrungen als DJ und auch schlechte, wo ich falsch verstanden wurde ;) Ich fange mal mit der schlechten an – ein Set, das tagsüber bei einem Sommerfestival am Strand stattfand, hat mich hart getroffen, und ich bekam das Gefühl, dass ich mich als DJ in einer engen Nische befinde. Ich hatte aber so viele wunderbare Gigs als DJ, da hat die eine Erfahrung nicht viel ausgemacht. Ich spiele sehr gerne für Communities, die kulturell divers sind, für Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, Immigrant*innen, Expats und für verirrte Reisende. Ich bin selber Immigrantin und ich glaube, dass das Gefühl, unser Zuhause zu vermissen und zu suchen, uns für neue Eindrücke, Musikgenres und Stile öffnet. Deswegen war eines meiner besten DJ-Sets im Londoner Jazz Café, wo die Leute unterschiedlicher Herkunft waren und jeden einzelnen Track gefeiert haben. Ich schätze mal, dass der Ort nicht so wichtig ist. Wunder können in kleinen Clubs passieren (Party in Frankfurt mit Pedo), in größeren Locations (Grenobles La Bombine mit Florence Mambo-Chick oder Habibi in Tunis mit Samy Ben Redjeb und Volkan Kaya). Viel wichtiger als der Ort sind die anderen DJs, mit denen ich Verbundenheit und Empathie für die Musik fühle, und natürlich ein empfängliches Publikum.

Welche Rolle spielt das Zuhören in deiner Arbeit? Wie wird das Zuhören wertschätzend? Wo platzierst du die Veranstaltung „OFF THE RECORD“ im Vergleich zu anderen Kulturen des Zuhörens?

Das Zuhören ist ein wichtiger Teil meiner Musikreise. Seitdem ich mit alten Labels gearbeitet habe, die ihre Archive mit mir teilen, verbringe ich hunderte Stunden damit, Musik zu durchsuchen, von der ich davor nie gehört hatte. Du musst beim Entdecken offen sein und Musik hören, die du nicht kennst oder vielleicht sogar nicht magst. Ich denke, dass die Musik aussagekräftiger wird, wenn wir sie mit Wissen kombinieren, deswegen höre ich zu und versuche gleichzeitig, die Geschichten hinter der Musik herauszufinden. Ich versuche diese Herangehensweise mit Leuten in meiner Branche zu teilen.
Off The Record war für mich eine fantastische Erfahrung. Aufgrund der Intimität und des sehr persönlichen Kontakts mit dem Publikum wurden alle meine Erwartungen erfüllt. Die Session wurde als Begegnung mit der Musik gestaltet und ich hatte das Gefühl, dass ich meine Aufgabe erfüllt habe – die Message durch das Geschichtenerzählen rüberzubringen und Lieder zu spielen, bei denen das Publikum aktiv mitmacht.

Welche Erinnerung von der Veranstaltung „OFF THE RECORD“ möchtest Du mit uns teilen?

Eine der Erinnerungen ist sehr schön, und sie erinnert mich immer wieder daran, dass Musik die Kraft hat, verlorene Realitäten wiederherzustellen und Wunden zu heilen. Bei der Veranstaltung, die Musik von türkischen Frauen ehren sollte, gab es einen türkischen Mann, der vor einiger Zeit nach Deutschland gezogen ist. Als ein Lied von Dilber Doğan gespielt wurde – „Yıkılla Köyler“ – ist der Mann plötzlich mit Tränen in den Augen aus dem Raum gegangen. Während des Vortrags ist das Gefühl des Heimwehs in ihm immer stärker geworden, aber das Gefühl explodierte, als er das Lied gehört hatte. Wir unterhielten uns später und tauschten uns darüber aus, wie es ist, weit weg von zu Hause zu sein. Wir sind immer noch befreundet und er kommt zu jedem Konzert, das ich in der Nähe von Bochum spiele, wo er mittlerweile lebt.

Welche Gedanken stecken hinter der Auswahl, die du in deinem Set aufgenommen hast?

Das Set ist eine Auswahl von türkischen und griechischen Liedern von Sängerinnen aus den 70ern und enthält einen Überraschungssong aus Serbien. Die Tracks kommunizieren irgendwie alle miteinander, weil ihre Wurzeln in der traditionellen Musik liegen. Ich nehme sehr gerne die Stellen wahr, an denen sich die Musik und die Kultur überschneiden. Ich hatte schon sehr lange vor, türkische und griechische Musik in einem Mixtape zu vereinen – ich danke euch für die Gelegenheit, diese Geschichte zu erzählen.

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// Biografie  

Kornelia Binicewicz – polnische Kultur-Anthropologin, die aktuell in Istanbul in der Türkei lebt. Sie war über viele Jahre Kuratorin von Musik- und Kulturfestivals in Polen. 2015 ist sie nach Istanbul gezogen, um Musik von Frauen aus der Türkei und dem Mittleren Osten zu erforschen. Sie hat Ladies on Records gegründet, ein kuratiertes, facettenreiches Projekt; die Marke wurde geschaffen, um zu repräsentieren, was Frauen in den letzten Jahrzehnten zur globalen und lokalen Musik beigetragen haben. Kornelia hat „Turkish Ladies. Female Singers from Turkey 1974 – 1988“ und „Uzelli Psychedelic Anadolu“ kuratiert. Jeden Tag reist sie auf ihrer Insel in Istanbul durch die ganze Welt und sucht nach faszinierender Musik und bedeutsamen Geschichten, die sie weitererzählen kann.

www.ladiesonrecords.com

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Weitere Folgen:

FOR THE RECORD #1: Ernesto Chahoud

FOR THE RECORD #2: Habibi Funk

FOR THE RECORD #3: Esa Williams

 

Kornelia Binicewicz. Foto: Esra Ozdogan
Kornelia Binicewicz. Foto: Ladies on Records
Kornelia Binicewicz und Guy Dermosessian bei OFF THE RECORD, Listening Session 2018. Foto: Romy Schmidt
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