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Geschichte eines Interkulturellen Kalenders. Ein Gespräch mit Mehmet Bingöllü

Mehmet Bingöllü

Geschichte eines Interkulturellen Kalenders. Ein Gespräch mit Mehmet Bingöllü

von: 
Interkultureller Kalender 2020

Der Interkulturelle Kalender feiert die einzigartige Vielfalt des Ruhrgebiets. Mit der Sonderedition des Jahres 2020 stellen wir jeden Monat interkulturelle Akteur*innen vor und laden zu Veranstaltungen an besonderen Orten ein. Im Januar steht Mehmet Bingöllü im Mittelpunkt, der seit den frühen 1980er Jahren in Eigenregie einen Interkulturellen Kalender des Ruhrgebiets herausgibt.

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Lieber Mehmet, erzähle uns doch bitte ein wenig zu Deiner Person.

Ich bin im April 1972 als Elektriker nach Hattingen gekommen. Bis dahin hatte ich in der Türkei die Themen Gewerkschaft, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge nicht gekannt. Als ich aber auf Anregung der Funktionäre der IG Metall zum Vertrauensmann gewählt wurde, habe ich für die soziale Arbeit "Blut geleckt". Wir haben als eine der ersten Städte in Hattingen den „Ausländerbeirat“ gegründet. Dann habe ich bei der AWO als Sozialbetreuer für türkische Familien in Oberhausen gearbeitet. Nach 2,5 Jahren bin ich zur neu gegründeten Hauptstelle der „RAA“ („Regionale Arbeitsstelle zur Förderung ausländischer Kinder und Jugendlicher“, jetzt „Kommunale Integrationszentren“) in Essen gewechselt und wurde danach vom Jugendamt als Koordinator für das Gemeinwesenzentrum in Altenessen übernommen. Nachdem diese Stelle aufgelöst wurde, habe ich bis zu meiner Pensionierung als Leiter des Stadtteilbüros Altenessen gearbeitet.

Eine mein Leben verändernde Erfahrung habe ich in der Stahlfabrik in Hattingen gemacht: In der Türkei wurde ich z.B. beim Militärdienst so erzogen, dass alle Griechen unsere Todfeinde sind. Nachdem ich mehrere griechische Kollegen sowohl im Ledigenheim als auch am Arbeitsplatz kennengelernt hatte, habe ich die Menschen nicht als Feinde, sondern als Menschen erlebt. Darüber hinaus hatten wir, außer der Religion, viele kulturelle Gemeinsamkeiten. Da habe ich begonnen, mich für andere Kulturen und Religionen zu interessieren und mein Wissen im Alltag zum Dialog zu nutzen. Das hat mir große Freude bereitet. Die direkten Bekanntschaften und Informationen habe ich schätzen gelernt. So konnte ich viele meiner Vorurteile korrigieren.

Der Interkulturelle Kalender, den Du herausgibst, hat eine lange Geschichte, die bis in die frühen 1980er Jahre zurückreicht. Wie kam es damals zu Deiner Initiative, den Kalender herauszubringen?

In der „RAA“ war es eine meiner Aufgaben, zwischen den Schulen, Familien und Kindern zu vermitteln sowie Brücken zur Politik zu schlagen. Da kam ich auf die Idee, einen interkulturellen und interreligiösen Kalender als Kulturträger zu nutzen. Ein solcher Kalender sollte die Geschichte des jeweiligen Landes (durch nationale Feiertage) und Kultur (religiöse Feiertage) bekannt machen. Damals gab es keinen Kalender dieser Art. Durch ergänzende sensibilisierende Maßnahmen in Schulen und Behörden habe ich versucht, Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft einander näher zu bringen. Später habe ich deshalb den Titel „Kalender zum Dialog“ für meinen Kalender gewählt. Im Kontext der Globalisierung habe ich viele Beschlüsse der UNO und ihrer Institutionen, z. B. für Menschenrechte, gegen Rassismus, für Frauenrechte, zum Schutz der Natur usw. als gemeinsame und verbindende Elemente hinzugenommen.

Und kannst du uns beschreiben, wie der Kalender damals aussah?

Nachdem ich das erste Konzept erstellt hatte, habe ich überlegt, es nicht ganz so allgemein zu halten, sondern Schwerpunkte zu bilden, zum Beispiel Sport, Jugend und Kinder sowie Religion oder Alltag in der Migration. Und nachdem der erste ganz einfach gestaltete Kalender Erfolg hatte, habe ich mich für ein größeres Format mit inhaltlichen Schwerpunkten sowie entsprechend ausgewählten Fotos entschieden und dafür Fördergelder beim damals zuständigen Ministerium beantragt. So konnte ich über mehrere Jahre den Kalender herausgeben.

Der Kalender wurde innerhalb der RAA-Städte nach ihrem Bedarf verteilt. Hauptsächlich hatten wir zunächst die Schulen, Kindergärten und religiösen Einrichtungen sowie Beratungsinstitutionen im Blick. Migranten muslimischer Herkunft wurden von der AWO, griechischer Herkunft von der Diakonie sowie Italiener*innen und Portugies*innen von der Caritas betreut.

Dieses Jahr haben wir uns entschieden, im Jubiläumsjahr des RVR – als Träger von Interkultur Ruhr – gemeinsam einen Kalender herauszubringen. Was ist aus Deiner Sicht in dieser Ausgabe des Kalenders anders?

Für unseren Kalender 2020 haben wir z.B. durch Diskussionen in der Arbeitsgruppe auf die nationalen Feiertage verzichtet, weil zum Beispiel der türkische „Tag des Sieges" oder der griechische „Tag der Befreiung“ eher nicht zum Dialog anregen, sondern eher zur Betonung eigener nationaler Identität beitragen. Außerdem haben wir einige religiöse Feiertage durch ausführliche Texte und, wenn möglich, mit einer Einladung zum näheren Kennenlernen und zum Dialog hervorgehoben. Zudem werden Monate und Wochentage in verschiedenen Sprachen, als Symbol der Gleichwertigkeit, dargestellt.

Was ist aus Deiner Sicht das Besondere an der kulturellen Vielfalt im Ruhrgebiet?

In der Vergangenheit wurde durch die Zechen und die Stahlgewinnung ein immenser Bedarf an Arbeitskräften ausgelöst, der nicht allein durch deutsche Arbeitskräfte zu befriedigen war. Es wurden viele Menschen, damals sogenannte "Gastarbeiter", ins Land geholt. Leider hat es die Politik versäumt, eine realistische Langzeitplanung zu entwickeln und durch die Betonung „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ nicht die notwendigen Rahmenbedingungen zur Integration geschaffen. Deshalb existieren trotz der großen wahrnehmbaren Vielfalt oft noch ein Nebeneinander und kein Miteinander. Daher ist ein solcher Kalender immer noch hilfreich beim Dialog.

Was sind Deine Wünsche für die Zukunft des Interkulturellen Kalenders?

Wie ich bei der Einführung zu meinem Kalender betont habe: „Um Andere zu verstehen, kann man sie nicht mit eigenen soziokulturellen Maßstäben, Vorurteilen, Stereotypen und Ethnozentrismen messen, sondern muss sie im Rahmen ihrer jeweiligen Wertesysteme sehen. Danach gibt es kein "besser" oder "schlechter", sondern nur ein "anders".

Es gibt keine Patentrezepte für das Zusammenführen von Menschen. Ein guter Weg hierzu ist zweifellos die offene Begegnung mit Menschen anderer Kulturen und Information durch diese selbst. Den großen Stellenwert des Andersseins zu erkennen, zu verweilen, um interessante Bekanntschaften zu machen und Freundschaften mit Menschen zu erwerben, fördern das Besondere. Wenn dieser Kalender etwas dazu beitragen würde, wäre ich sehr glücklich.

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Einladung: Yalla(h) 2020! Am 22. Januar um 18 Uhr laden wir Sie herzlich nach Oberhausen ein, um gemeinsam mit den Beteiligten die Veröffentlichung des Interkulturellen Kalenders zu feiern. Weitere Informationen: hier.

Der Interkulturelle Kalender 2020 in gedruckter Version kann hier bestellt werden. Eine digitale Version (pdf) zum Herunterladen finden Sie hier. Einen erweiterten Kalender von Mehmet Bingöllü mit hunderten weiterer Gedenk- und Feiertage sowie Hinweisen und Erläuterungen finden Sie hier.

Im Podcast zum Interkulturellen Kalender hat sich Olga Felker mit Mehmet Bingöllü auf einen Çay getroffen > hier.

Mehmet Bingöllü
Interkultureller Kalender von Mehmet Bingöllü
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Interkultureller Kalender 2020: Januar
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