Pfingsten im Petershof. Ein Gespräch mit Sylvia Brennemann
Pfingsten im Petershof. Ein Gespräch mit Sylvia Brennemann
Der Interkulturelle Kalender feiert die einzigartige Vielfalt des Ruhrgebiets. Mit der Sonderedition des Jahres 2020 stellen wir jeden Monat interkulturelle Akteur*innen vor und laden zu Veranstaltungen an besonderen Orten ein. Im Juni steht das Sozialpastorale Zentrum Petershof in Duisburg-Marxloh im Mittelpunkt: Johanna-Yasirra Kluhs im Gespräch mit Sylvia Brennemann.
Pfingsten. Das Gründungsfest der Kirche. Der Glauben bekommt Häuser, Strukturen. Und eine Gemeinschaft. Was für ein Ort ist diese Institution – oder vielmehr: kann sie sein? Im nördlichen Duisburg, im Stadtteil Marxloh, befindet sich der Petershof. Eine vieldiskutierte Ausnahmegemeinde, die immer wieder im Fokus der Öffentlichkeit steht. Ich sehe eine ihrer Mitarbeiterinnen, Sylvia Brennemann, zum ersten Mal, als ich an einer von ihr initiierten Demonstration gegen die Zwangsräumungen von Roma-Mitbürgerinnen teilnehme. Sie beeindruckt mich durch ihren Realitätssinn, ihre klaren Worte und menschenfreundliche Haltung.
Als ich den Petershof per elektronischer Post für ein Interview anfrage, warte ich einige Wochen auf eine Antwort des vielbeschäftigen Teams. Und bevor ich noch einmal nachhaken kann, treffe ich Sylvia Brennemann auf der Kundgebung der Duisburger Seebrücke wieder. Sie lädt mich sofort zu einem Besuch auf dem Hof ein. Als ich dort einige Tage später ankomme, finde ich ein belebtes Gelände vor. Die offenen Türen der Kirche laden zum Besuch ein. Als ich eintrete, werde ich direkt selbst von drei Jungen interviewt: “Bist du Christin?” Gar nicht so einfach zu beantworten, die Frage. Mal sehen, was meine Gesprächspartnerin Sylvia Brennemann dazu zu sagen hat.
Johanna-Yasirra Kluhs (JYK): Danke, dass du dir Zeit für ein Gespräch genommen hast. Vielleicht beginnen wir mit einer kurzen Vorstellung?
Sylvia Brennemann (SB): Ich bin Sylvia Brennemann, ich bin 49 Jahre alt, bin gebürtige Marxloherin und von Beruf Familienkrankenschwester. Arbeite freiberuflich für die Frohen Hilfen in Duisburg, mache ganz viele Hausbesuche und hier im Petershof bin ich für die Elternberatung zuständig, also Familienbildung, Elternberatung, ein Rundum-Sorglos-Paket rund um das Thema Familie.
JYK: Passiert hier noch mehr als Elternberatung? Was ist der Petershof für ein Ort?
SB: Der Petershof ist ein Sozialpastorales Zentrum mitten im Ortsteil Marxloh. Wir sind sehr variabel in unseren Angeboten und versuchen immer, uns den Bedarfen des Stadtteils anzupassen. So haben wir jetzt seit einigen Jahren jeden Tag vormittags und nachmittags Deutschkurse im Angebot. Wir haben eine Kinderbetreuung, in der die Kinder auch Nachhilfe bekommen können, also z.B. Hausaufgaben machen können. Wir bieten Ferienfreizeiten an, wir haben eine Sozialberatung. Jeden Tag von morgens bis abends offene Anlaufstellen mit den entsprechenden Übersetzern. Wir haben eine Kleiderkammer, wir haben einen offenen Mittagstisch – und einen eigenen Sportverein! Wir haben eine boxende Jugend und eine fußballspielende Jugend inzwischen hier im Petershof.
JYK: Wahnsinnig viel! Wie hat sich das entwickelt, dass ihr euch so vielseitig aufgestellt habt?
SB: 2012 kam Pater Oliver in den Stadtteil und hat hier im alten Pfarrhaus den Auftrag erhalten: “Mach ein Sozialpastorales Zentrum.” Also die Kirche als interkulturelle Brücke zwischen hier und der Moschee gegenüber. Die ist ja im Blick, wir bilden eine Achse. Die Kirche sollte erhalten bleiben, auch wenn der Zustrom katholischer Gemeindemitglieder schon längst nicht mehr gegeben ist. Also, der Stadtteil ist stark muslimisch geprägt und 70% der hier lebenden Menschen haben keinen deutschen Hintergrund. Pater Oliver kam dann auch, als der alte Pfarrer noch da war. Sehr schnell war klar, der schlimmste Bedarf hier ist, dass viele Menschen hier keine Krankenversicherung haben und also medizinisch nicht versorgt sind. Gar nicht. Zunehmend haben wir dann mitbekommen, dass Patienten in den Krankenhäusern abgewiesen wurden, die keine Krankenversicherung hatten und da Pater Oliver im ersten Leben auch Krankenschwester gewesen ist und ich ja auch und da gibt’s noch ein paar befreundete Ärzte, haben wir relativ schnell entschieden: Wir machen hier eine Praxis auf. Wir haben mit fünf bis sechs Patienten angefangen in der ersten Woche, haben dann ein Mal in der Woche nachmittags geöffnet gehabt und haben 100-120 Patienten im Schnitt hier durchgeschleust. Mit sieben, acht ehrenamtlichen Ärzten, alles Ärzte in Rente, die dachten: “Ach, wir wollen noch mal was Vernünftiges machen.”
Wir haben diese Praxis hier damals eröffnet, nicht weil wir so darauf abfahren zu helfen, sondern als politisches Druckmittel. Um zu zeigen: es gibt sie hier, tausende Menschen. Inzwischen hält die Stadt ja Zahlen vor, also es sind etwa 16.500 Menschen [ohne Krankenversicherung]. Um zu sagen: an so einem Zustand, der eigentlich einer humanitären Katastrophe gleicht, muss etwas verändert werden. Verändert haben wir in den zwei Jahren, die wir die Praxis gemacht haben, nicht wahnsinnig viel für die Menschen, aber inzwischen gibt es eine richtige Praxis, hier in der Innenstadt von den Maltesern, wo ein Mal in der Woche Menschen ohne Krankenversicherungs-Schutz sich helfen lassen können. Aber was wir eigentlich wollten, dass alle Menschen eine reguläre Aufnahme ins normale Gesundheitssystem erhalten, das Ziel haben wir nicht erreicht.
JYK: Und daraus haben sich Beziehungen ergeben, andere Bedarfe gezeigt und dann haben sich die entsprechenden Angebote entwickelt?
SB: Genau. Wir haben natürlich sehr schnell mitbekommen, dass nicht nur die Krankenversicherungen fehlen und auch nicht nur die Zuwanderer*innen aus Südosteuropa in einer äußerst prekären Lage sind, sondern dass die Armut insgesamt im Stadtteil massiv zugenommen hat. Da ging auch um die Bedarfe des täglichen Lebens. Kleidung, Wohnraum zu bekommen. Es ging auch darum, die Sprache zu erlernen, weil eben dann auch die sogenannte Flüchtlingskrise einsetze, die Sprachkurse total überlaufen waren, viele viele tausende Menschen überhaupt keinen Zugang zum Zweitspracherwerb hatten. Da haben wir dann eben auch versucht, dagegen zu steuern, haben hier Lehramtsstudentinnen und Lehrer in Rente geholt, die das auch immer noch machen, um die Leute dann zu den Prüfungen zu begleiten. A1, B1.
Dann haben wir eine ganze Weile auch Die Tafel vor Ort gehabt. Da sind aber die Zugänge für unsere Philosophie viel zu hoch. Man muss mittels Hartz 4-Bescheid nachweisen, dass man von Armut betroffen ist. Kann man das nicht, dann hat man auch keine Berechtigung, hier Lebensmitteltüten zu bekommen. Und unsere Betroffenen sind arm, sind sogar so arm, dass sie keinen Hartz 4-Bescheid haben. Die Zuwanderer aus Südosteuropa haben kein Anrecht auf Hartz 4. Deswegen gab es einen Konflikt, dass wir gesagt haben: “Das wollen wir hier nicht.” Da gab’s dann auch sehr unschöne Auseinandersetzungen. Denn, ja, es ging um Hunger. Es ging um die nackte Existenz. Und da werden Menschen natürlich auch ziemlich ungemütlich, verständlicherweise. Dann haben wir gesagt: “Ein anderes Konzept muss her.” Deswegen machen wir jetzt den Mittagstisch. Dass man zumindest ein Mal am Tag eine warme Mahlzeit bekommt. Darüber hinaus kooperieren wir mit Immersatt, die bringen uns morgens einen Karton voll Frühstücksbrote, sodass die Kinder hier morgens ein Frühstück haben, oder die Brote mitnehmen, oder was auch immer. Sodass die Kinder eine niedrigschwellige Versorgung haben. Gewährleisten können wir die nicht, aber es gibt ein Angebot.
JYK: Das ist interessant. Du sagst, Nachweise für Hilfsberechtigung sind nicht euer Ding. Was ist euer Kriterium dafür, die Menschen zu unterstützen? Vertrauen?
SB: Ja, die Türen sind erstmal offen. Das macht ja auch diese Kirche aus. Die Türen sind immer offen. Nicht nur von der Kirche, sondern vom gesamten Petershof. Das heißt, jeder der hier hinkommt, hat erst mal einen Grund. Und den muss er uns nicht nennen. So. Das muss er auch nicht beweisen. Und wenn jemand sagt, er braucht das, das und das, und wir können das erfüllen, dann kriegt er das auch. Vertrauen. Hm. Es ist einfach der Anspruch, dass derjenige, der um Hilfe ruft, erst mal Recht hat. Und viele von denen, die Hilfsbedarf angemeldet haben und gekommen sind, sind dann wiederum geblieben und helfen jetzt weiter. Also es ist nicht so, dass man hier hinkommt, nimmt und dann nie mehr wiederkommt. Wir alle, auch die die hier helfen, haben irgendwie einen Bedarf, sonst wären sie auch nicht hier.
JYK: Wie organisiert ihr die facettenreiche Angebote hier?
SB: Gar nicht. (lacht)
JYK: … also einerseits finanziell, aber auch dispositorisch?
SB: (lacht weiter) Ungefähr 100 Ehrenamtler arbeiten hier. Wir sind nur ein ganz kleiner Pool, ungefähr 5 Leute plus Azubis, die hier angestellt sind. Und wir sind auf Geldgeber angewiesen. Es gibt Stiftungen, die uns unterstützen. Wir sind auf sehr viel Spendenbereitschaft angewiesen.
JYK: Das heißt, ihr werdet nicht komplett von der Katholischen Kirche getragen?
SB: Nein. Wir dürfen die Gebäude hier nutzen und das war’s.
JYK: Und wie stark identifiziert ihr euch überhaupt mit eurer eigenen Christlichkeit? Spielt die eine Rolle? Auch die Feste?
SB: Ich bin zum Beispiel Atheistin. Wir haben hier mehrere muslimische Mitarbeiter. Pater Oliver ist katholischer Pater, Schwester Ursula ist katholische Schwester. Ich glaube, wir treffen uns alle auf einem Nenner, der da heißt: “Für den Stadtteil, und zwar alles.” Die christlichen Feste werden hier gefeiert. Aber auch Bayram wird hier gefeiert. Ich glaub, wir feiern auch einfach ganz gerne. (lacht) Wir nehmen die Feste, wie sie fallen.
JYK: Ihr nutzt den Raum, um die Bedarfe, die da sind, zu verhandeln und ein wirksamer Ort für den Stadtteil zu sein.
SB: Ja, genau.
JYK: Und wer sind eure wichtigsten Kooperationspartner hier im Stadtteil?
SB: Das ist ein bisschen schwierig. Wir sind auch nicht so besonders beliebt. Bei anderen Institutionen. Wir haben unser Netzwerk. Aber das sind vielleicht nicht so die klassischen. Wir arbeiten mit dem Flüchtlingsrat NRW, mit Stay in Düsseldorf. Mit 50/50. Schon Kooperationspartner, die von der Philosophie so ähnlich ticken wie wir. Um wirklich Hilfe leisten zu können.
JYK: Ein Grund, Pater Oliver hier hin zu holen, war ja auch die Zusammenarbeit mit der Moschee – wie läuft die inzwischen?
SB: Es gab Zeiten, da gab’s eine sehr enge Kooperation. Und ich glaube auch, dass wir uns freundschaftlich verbunden sind. Mittlerweile aber dadurch, dass die Moschee auch ihre eigenen Probleme hat und auch noch sehr an den Baukosten der Moschee zu knabbern hat, sieht man sich selten. Wir würden sagen, das ist der gestresste Nachbar zur Zeit. Es gibt ein interkulturelles Frühstück, das organisiert wird von den Frauen dieser Gemeinde und den Frauen anderer Gemeinden. Zum Bayram wird sich gegenseitig eingeladen, aber es ist eher so: Ach, man freut sich, dass es mal ein Fest gibt, damit man den gestressten Nachbarn mal wieder sehen kann.
JYK: Und was ist aktuell das größte Thema hier im Stadtteil?
SB: Armut, Armut, Armut. Existentiellste, schlimmste Missstände. Und die manifestieren sich dann in der ganzen Bandbreite des Lebens. Also, es gibt ganz viele Menschen, die nicht genug zu essen und zu trinken haben, die den Monat nicht überbrücken können. Die auch dann natürlich mit dem entsprechenden Beantragen von staatlichen Hilfsleistungen, staatlichen existentiellen Leistungen total überfordert sind. Wir haben einen großen Anteil von analphabetischen Menschen hier, die kommen dann zu uns und lassen sich helfen. Wir sehen auch die vielen fehlenden Schulplätze. Es sind mehrere hundert Kinder in Duisburg, die keinen Schulplatz haben, auch wenn sie schon längst schulpflichtig sind. Da haben wir dann auch hier am Hof, in Kooperation mit der AWO, an drei Tagen in der Woche Willkommensklassen eingerichtet, die hier unterrichtet werden, was aber natürlich mit einem normalen Schulplatz nicht vergleichbar ist. Das sehen wir. Und wenn man natürlich sagt, dass ein Schlüssel, aus der Armut herauszukommen, Bildung ist, dann haben wir hier schon ein ganz großes Defizit. Funktioniert halt nicht. Das ist eins der Probleme. Der fehlende Gesundheitsversicherungsschutz ist natürlich immer noch ein Thema, an dem wir auch weiterhin arbeiten, da es immer noch pressiert.
Und natürlich die leidliche Wohnungsfrage. Wohnraum gibt es zwar, und den kann man hier sogar noch bezahlen. Also es ist kein Gentrifizierungsproblem im klassischen Sinne. Aber der Stadtteil hat ja ganz lange unter Wohnleerstand gelitten und dann kam der Zuzug aus Südosteuropa. Vorher aber, diese “nicht vermietbaren” Wohnungen wurden aufgekauft von, ich nenne sie mal freundlich Immobilienhaie, die hier für einen Apfel und ein Ei ganze Straßenzüge aufgekauft haben und mit der Armut noch mal ein richtig dickes Geschäft gemacht haben. Mitunter devastierte Wohnungen, die noch nicht mal ans Stromnetz angeschlossen sind, kein fließend Wasser vorweisen können, zu horrenden Preisen an die Betroffenen vermietet, rausgepresst bis nix mehr ging und dann wurden die geräumt. Das ist ja auch immer noch so. Die Stadt Duisburg räumt ja inzwischen selber, auch mit der sogenannten Taskforce. Unter dem Vorwand “Brandschutz und Sicherheitsaspekte” zieht die Taskforce hier durch die Häuser und lässt räumen. Ich allerdings denke, ich unterstelle, ich bin mir sehr sicher, unter dem Aspekt: “Wenn man die Leute räumt, dann wird man die los, dann ziehen die in andere Städte.” Das passiert natürlich nicht. Und damit provoziert man ein noch viel größeres Problem.
JYK: Das sind ja eigentlich alles kommunalpolitische Fragen, die du als die größten Probleme beschreibst. Wie situiert ihr euch in der realpolitischen Gemengelage?
SB: Wir sind ja kirchlich, also erst mal nicht politisch. Wobei wir natürlich gerne politisch subsumiert werden. Ich meine, wir haben hier ja hohen Besuch gehabt. Sigmar Gabriel war hier, Angela Merkel war hier, alles was Rang und Namen hat, hat sich hier schon mal die Hände geschüttelt. Wir sagen einfach das, was ist und das macht uns ausgesprochen unbeliebt, das möchte man nicht so gerne hören. Es gab auch viele, die sich hier mit großer staatsmännischer Betroffenheit die Probleme der Menschen angehört haben. Aber realpolitisch unvermögend waren, an der Situation etwas zu verändern.
JYK: Ihr habt ja sogar einen eigenen Verhaltenskodex herausgegeben. Den findet man auch auf eurer Website. Den Petershofer Konsens. Was ist das?
SB: Es gibt Sozialarbeit und Sozialarbeit. Es gibt Sozialarbeit mit pädagogischem Anspruch, wo man Menschen erklärt, wie das Leben funktioniert. Wir brechen das so runter, dass wir sagen, jeder kommt hierhin und bringt Ressourcen mit. Und Menschen, die zu Fuß vom anderen Ende der Welt gekommen sind oder sich schon durch ganz Europa geschlagen haben, denen brauch’ ich die Welt nicht zu erklären. Ich lerne von denen. Dieses Jammern auf hohem Niveau, das wir ja ganz gut kennen, und das ich auch ganz gut kann, da lernt man hier ein bisschen Bescheidenheit. Ich erkläre den Menschen nicht das Leben, sondern maximal den Behördendschungel und die staatlichen Repressionen, denen sie hier ausgesetzt sind.
JYK: Im Stadtteil gibt es besondere Projekte, die schon lange an der Grenze von Quartiersentwicklung und Kultur arbeiten, z.B. der Medienbunker Marxloh und Tausche Bildung für Wohnen. Habt ihr etwas mit denen zu tun? Was spielt Kultur für eine Rolle im Petershof?
SB: Ja, klar! Das ist natürlich die gute Nachbarschaft. Tausche Bildung für Wohnen auf jeden Fall, mit denen arbeiten wir gerne zusammen. Sei’s auf der Klientenebene – wie auch immer. Das ist ein Projekt, das wir sehr begrüßen, da die tatsächlich nicht schwätzen, sondern machen (lacht). Das sind Pragmatiker. Da zieht der Stadtteil einen Gewinn draus! Für den Stadtteil ist das ein goldrichtiges Projekt und vollkommen wichtig. Und der Medienbunker. Also, mich als Uralt-Marxloherin macht dieses Label “Made in Marxloh” natürlich glücklich. Uns alle macht das glücklich. Und wenn man irgendwo ist, und man sieht in Essen oder so diesen Aufkleber, dann denkt man: Ja! Diese Geschichte.
Ich bin ja nun fast 50. Und wir waren immer die Schmuddelkinder. Also, ich gehörte auch immer zu den Schmuddelkindern. Als ich dann irgendwann entschieden habe, meine Kinder werden auch hier aufwachsen – dass niemand das Jugendamt gerufen hat… “Sag mal, wie kannst du nur, wie kannst du nur? Du hast doch Abitur, du hast doch ne tolle Ausbildung – warum gehst du nicht?” Ja, warum soll ich gehen? Immer wieder in so eine vermeintliche Defensive zu rutschen, immer wieder sich rechtfertigen zu müssen, warum man bleibt, obwohl man gehen könnte – da war “Made in Marxloh” für uns alle so etwas wie ein heilsames Pflaster. “Made in Marxloh” – na klar. Jetzt kokettieren wir natürlich auch damit. Zu sagen, hier im Stadtteil gibt es Ressourcen. Nicht zu sagen, wir Menschen sind das Problem – das System ist das Problem. Nicht wir. Und das hat "Made in Marxloh” natürlich sehr gut umgesetzt. Einfach umgedreht und sagen: Hey, wir sind ein Label. Und natürlich kooperieren wir zusammen! Ja, ja, das schon. (lacht)
JYK: Wenn man sich anschaut, wie ihr hier Kirche macht, dann ist man ja recht schnell bei lateinamerikanischen Konzepten von Befreiungstheologien. Wo es ja auch hieß: Die Kirche tut nicht etwas für den Armen, sondern sie ist der Ort der Armen. Es geht genau darum, dass man die Institution für die Selbstbehauptungskämpfe nutzt. Kannst du damit etwas anfangen? Spielt das eine Rolle hier in der Auseinandersetzung?
SB: Also, ich bin jetzt nicht trittfest in der Befreiungstheologie (lacht), aber genau so ist das hier: Jeder, der hier Kirche machen will, der macht hier Kirche. Und jeder, der hier her kommt, findet hier irgendwas. Zumindest, wenn er bleibt. Das sind Anknüpfungspunkte. Da ist manchmal der Aspekt Kirche – es gibt Viele, die den Tag über in die Kirche gehen, eine Kerze anzünden am Marienaltar. Die Gottesdienste werden, seitdem es Pater Oliver gibt, gut besucht. Und es sind eben nicht nur Marxloher, die kommen. Sondern eben – naja, sie wollen ihn halt hören. Er polarisiert natürlich auch ganz schön, und ihn will man hören. Auch ich als Atheistin kann die Gottesdienste gut besuchen. Das ist überhaupt nicht schlecht. Es wird einem nichts genommen, es wird einem auch nichts aufoktroyiert, sondern letztlich sind wir hier im Fluss. Und wenn man bleiben möchte, dann kann man bleiben und dann kann man hier was machen. Also, unsere muslimischen Mitarbeiter beten auch in der Kirche. So. Also jeder, wie er meint. Im Winter haben die Obdachlosen in der Kirche übernachtet, als es diese krassen Frostnächte gab. Wir haben auch schon Tischtennisplatten darin aufgebaut. Die Fahrrad-AG: Wenn es regnet, gehen die auch in die Kirche. Also, sagen wir mal so: Kirche versteht sich hier – wenn ich das aus meiner atheistischen Sicht mal so sagen darf – als Multizentrum. Stadtteilzentrum! Unser Wohnzimmer, unser Vorgarten. Also, man kann hier viel Zeit verbringen, wenn man möchte. Mit den Ressourcen, aber auch mit den Mitarbeitern.
JYK: Du bist jetzt seit sieben Jahren hier. Hat sich dein Blick auf den Stadtteil in dieser Zeit verändert? Und dein Bild von Kirche?
SB: Na, meine Idee von Kirche hat sich glaube ich nicht verändert. Also, ich bin nicht religionsfeindlich, überhaupt nicht. Manchmal wünsche ich mir auch, ich könnte auch beten. Vielleicht hilft’s ja. Einfach so, um ein bisschen Ruhe zu finden. Ich bin Kirche gegenüber sehr kritisch. Und ich glaube, das hat sich auch über den Petershof nicht verändert. Ich glaube, ich habe schon im Blick, dass das ein besonderes Projekt ist, und dass man das nicht unbedingt überall findet. Trotzdem bin ich auch naiv genug, zu glauben, dass wenn man eine gesellschaftliche Veränderung will, Kirchen und Moscheevereine, also alle die, die solche Werte wie Nächstenliebe auf ihre Fahnen schreiben, mit ins Boot holen muss, um Gesellschaft zu verändern. Zu einer solidarischen, lebenswerten Gesellschaft. Meinen Blick auf den Stadtteil hat das nicht verändert.
Ich bin Kinderkrankenschwester, ich habe lange auf einer Intensivstation gearbeitet, ich bin hier aufgewachsen im Stadtteil. Ich glaube, dass ich schon Vieles gesehen habe. Aber wenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, dass die Situation mal so sein würde, dann hätte ich das nicht geglaubt. Also, man teilt Schicksale, man hört Geschichten, man sieht Zustände, die unerträglich sind, und die einen auch verändern. Und da ist für mich der Petershof der geschützte Raum. Da bin ich raus aus dem System. Hier kann ich machen. Und wenn man noch was machen kann, dann ist das Therapie. Also, die Zustände sind unerträglich. Und nicht verwechseln: Es sind nicht die Menschen, die unerträglich sind, sondern die Umstände. Alleine, wenn man guckt, wie viele Geflüchtete hier sind, wie viele Menschen von Abschiebung bedroht sind, die wir hier betreuen. Wie viel Elend, wie viel Schicksal, wie viel Krieg auch stattfindet. Also, die Reste von Krieg, die kriegen wir ja hier ab. Man sieht ja, wie zerstört Menschen hier ankommen. Und dann die systematische Antwort der Bundesrepublik darauf… Das ist schon schwer zu ertragen. Und da muss man eben sehen, dass wir hier so einen geschützten Raum haben. Ich meine, manchmal kann man den Menschen auch nicht mehr helfen. Da steht man hier und sagt: “Tja, ausgereizt, wir können NICHTS mehr tun.” Und dieses Gefühl haben wir alle. Ertragen lässt sich das trotzdem nicht. Aber man sitzt im gleichen Boot. Weil wir das alle ablehnen. Wir unterstützen ja auch Menschen dabei, Abschiebeverfahren zu verhindern oder so. Aber das sind schon Zustände, die kann man auf keinem Kindergeburtstag erzählen. Ja.
JYK: Die Zustände sind unerträglich, die Menschen nicht. Gibt’s Raum für Utopien? Wenn du dir vorstellst, wie’s eigentlich sein könnte – was ist deine Vision?
Ja, Sozialismus (lacht)! Ich glaube, ich bin zu alt um zu sagen: Es könnte sich ja mal was verbessern. Ich glaube nicht. Ich glaube, die Zustände verschlechtern sich massiv. Meinen Vorstellungen von Gesellschaft entspricht das nicht. Aber: Dagegen sein, Stimme erheben, laut sein. Und möglichst viele Menschen, die ein bisschen Anstand und Vernunft im Kopf haben, versuchen mitzuziehen. So vielleicht. Dass irgendwann tatsächlich ich weiß nicht was passiert. Vielleicht wirklich eine Utopie. Vor 20 Jahren hatte ich auch noch so große stadtplanerische Ideen. Ich bewundere auch Halil [vom Medienbunker Marxloh] dafür, dass er immer noch dafür brennt (lacht). Ja, wir haben tolle Projekte hier gemacht. Ich weiß nicht, auf wie vielen Hochglanzbroschüren auch mein Konterfei schon zu sehen war. Und hier, preisgekrönt, tolles Projekt, dies das. Und trotzdem muss man sich in jedem Sommerloch noch damit auseinandersetzen, dass unsere libanesischen Kinder die Bösen seien. Und unsere rumänischen Kinder die Wäsche von der Leine klauen. Diese Stigmatisierung nach bestimmten Denkmustern. Der Stadtteil wird politisch genutzt, um Stimmung zu machen. Da will ich nicht mitmachen. Das ist einfach ekelhaft.
JYK: Schönster Moment dieses Jahres im Petershof?
SB: (lacht) Es gibt viele schöne Momente. Naja, es ist immer dann, wenn der Hof voller Kinder ist. Die Kinder aus den schlimmsten Situationen, irgendwann hier angelandet, haben die Gabe. Das ist einfach total egal. Die leben jetzt. An diesem Tag. Und das dann auch immer mal wieder sehen zu dürfen, das richtet einen schon auf. Das sind schöne Momente.
JYK: Danke!
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Petershof Marxloh
Mittelstr. 2
47169 Duisburg
www.petershof-marxloh.de
https://www.georgswerk.de/petershof
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Die gedruckte Auflage des Interkulturellen Kalenders 2020 ist leider bereits vergriffen. Eine digitale Version (pdf) zum Herunterladen gib es > hier.
Der Interkulturelle Kalender des Ruhrgebiets empfiehlt jeden Monat eine besondere Veranstaltung. Am 28. Juni hatte die hinduistische Gemeinde in Deutschland zum Haupttempelfest in Hamm eingeladen. Die Veranstaltung muss wegen der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus leider ausfallen. Weitere Informationen > hier.