FOR THE RECORD #1: Ernesto Chahoud
FOR THE RECORD #1: Ernesto Chahoud
OFF THE RECORD ist eine Reihe von Listening Sessions, die sich mit globalen, außereuropäischen Musik- und Subkulturen auseinandersetzt. Sie ist 2017 aus einer Initiative von Interkultur Ruhr, Kalakuta Soul Records und der Labelmanagerin und Residentin im Programm von Interkultur Ruhr Avril Ceballos (Cómeme) hervorgegangen und wird in Kooperation mit dem atelier automatique fortgeführt.
Unter dem Titel FOR THE RECORD stellen Guy Dermosessian (Kalakuta Soul Records) und Eva Busch (atelier automatique) die Gastmusiker*innen und -DJs mit Interviews und fantastischen Mixtapes persönlich und musikalisch vor.
Die thematische Bandbreite der Veranstaltungsreihe reicht von der Sichtbarmachung vergessener oder marginalisierter Stimmen der Musikgeschichte bis hin zur Diskussion aktueller popkultureller Phänomene. Dabei spielt eine kritische Sensibilität für die sozialen und politischen Rahmungen dieser Entwicklungen eine große Rolle, vor allem in Hinblick auf die historischen Dimensionen postkolonialer gesellschaftlicher Verfasstheiten und zeitgenössischer Deutungshoheiten, Verwertungs- und Ausbeutungslogiken im Musikbereich.
Ernesto Chahoud, DJ, Kompilierer und Musikforscher aus Beirut, war am 24. März 2017 bei OFF THE RECORD / Listening Session #1 in der Goldkante Bochum zu Gast, wo es unter anderem um Jazz, arabische und äthiopische Musik ging. Exklusiv für diesen Beitrag hat er einen speziellen Mix produziert:
Fangen wir das Gespräch mit dem an, was uns zuerst vereint hat – Musik. Wie würdest du die Musik beschreiben, die du spielst und mit anderen teilst? Wie hat sie sich über die Jahre entwickelt?
Zuerst möchte ich mich bei euch dafür bedanken, dass ihr mich bei diesem Projekt bedacht habt. Vielleicht wusstest du es schon, aber ich habe mit 14 angefangen, Platten auf Flohmärkten in Beirut zu sammeln, und ich habe meinen ersten bezahlten DJ-Gig mit 16 bekommen. Dementsprechend ist es sehr schwer, die Musik zu beschreiben, die ich heutzutage spiele, außerhalb der natürlichen Entwicklung meines Musikgeschmacks und des Wachstums meines musikalischen Wissens. Es ist die eigentliche Suche nach Musik, die so wichtig für meine eigene Arbeit und die von gleich gesinnten DJs ist, d.h. recherchieren, lernen und unorthodoxe Musikgenres durchwühlen. Der Gedankengang, dass das Auflegen Teil der urbanen Kultur ist, ist bis zu einem gewissen Grad für die meisten Subkulturen von heute verantwortlich. Eins der wichtigsten Elemente meiner musikalischen Suche ist es, nach „neuen“ Platten der Clubbing-Musik aus den 60ern und 70ern zu schauen, die noch nie gespielt wurden oder kaum bis gar nicht bekannt sind – was viele DJs „Entdeckungen“ nennen.
In den letzten ungefähr sechs Jahren lag mein Fokus als DJ bzw. „Digger“ (Übersetzung: Gräber*in) und Kompilierer auf afrikanischer und hauptsächlich äthiopischer Musik. Dieses Fieber hat mich ergriffen, hat mich zum Durchgraben nach Äthiopien gebracht und ist in meiner Sammlung „Taitu“ aufgeblüht, einer Triple-LP mit äthiopischer Musik aus den 60er und 70ern, die auf dem britischen Label BBE veröffentlicht wurde. „Taitu Vol. 2“ habe ich mit meinem DJ-Partner JJ Whitefield zusammengestellt, die Sammlung ist bald fertig und wird bald rauskommen. Äthiopische Musik spielt eine große Rolle in dem was ich heutzutage auflege, hinzu kommt arabische Musik, Musik aus dem Mittleren Osten und weitere 60er und 70er Clubbing-Musik von Garage bis Krautrock. Weil ich libanesisch bin, habe ich das Glück, dass ich in ein tolles und vielfältiges arabisches Musikerbe hineingeboren wurde und die Fähigkeit habe, es zu verstehen – dies könnte als eingebautes Verständnis bezeichnet werden. Die arabische Musik gehörte also von Anfang an zu meinen täglichen Ausgrabungs-Trips auf den Flohmärkten. Das erste Mal, als ich einen Trip zum Ausgraben außerhalb des Libanon gemacht habe, war mit 18, als ich nach Aleppo gefahren bin, darauf folgten viele Reisen nach Kairo, Istanbul und so weiter. Ich bin froh darüber, dass die Clubbing-Welt jetzt ganz Ohr ist, was diese umfangreiche Kultur betrifft. Das hat dazu geführt, dass ich „Middle Eastern Heavens“, eine Reihe mit Neuauflagen mit progressiven Platten aus dem goldenen Zeitalter des Experimentierens mit Musik in der arabischen Welt, auf BBE einführen und kuratieren konnte. Die Reihe startete mit einer Neuauflage des genialen Albums „Belly Dance Disco“, dem ersten der instrumentalen Alben des libanesischen Komponisten Ihsan Al Munzer, das 1979 veröffentlicht wurde.
Inwiefern reagiert deine Arbeit auf bestehende und hegemoniale Gewohnheiten des Musikhörens und -konsums?
Meine Arbeit ist eigentlich mein Leben. Alles was ich mache, ist Musik hören, absorbieren und analysieren. Das befreit mich und macht mich zu dem, der ich bin. Wenn wir Musik hören, ist heutzutage das tolle daran, dass Webradio die Radiokultur wiederaufleben lässt, aber frei von den musikalischen Grenzen der kommerziellen Radiosender. Ich hatte das Glück, dass ich seit zwei Jahren eine Sendung auf NTS hatte. Einmal im Monat habe ich eine Show namens Beirut Daze, dort konnte mich frei mit der Musik ausdrücken, die ich spielen will. Mit meiner neuen monatlichen Radiosendung auf Totally Wired konnte ich noch mehr Leute in der ganzen Welt erreichen und die physischen Grenzen des Clubs als DJ überschreiten.
Wie stellst du dir einen Ort vor, an dem Leute zusammenkommen und Musik zelebrieren können?
Vor 10 Jahren habe ich die Clubreihe The Beirut Groove Collective angefangen, die ich zusammen mit Jackson Allers und Natalie Shooter betreibe. Wir arbeiten schon seit Ewigkeiten als Kollektiv von DJs und Musikprofis zusammen, um unsere Vision zu verwirklichen, einen Ort zu schaffen wo wir Musik zelebrieren können. Das könnt ihr auch auf den Fotos oder Videos von unseren Abenden sehen. Es ist mir wirklich wichtig, dass du die Musik, die du ausgewählt hast, an einem Ort erleben kannst, der frei von Geld, Macht und Beurteilungsdruck ist, und wo du so sein kannst wie du willst. Für mich ist der ideale Ort einer, wo fremde Menschen wie Familie sein können und du dich zuhause fühlen kannst.
Gab es oder gibt es Orte, an den du diese Vision erlebst oder erlebt hast? Was macht diese Orte besonders? Gib uns gerne konkrete Beispiele.
Die Orte, an denen ich es am meisten erlebt habe, sind natürlich in erster Linie meine Clubpartys. In Bezug aufs Auflegen in anderen Clubs – normalerweise suche ich meine DJ-Gigs sorgfältig aus, damit ich nicht in einem Club lande, wo ich nicht reinpasse. Eine weitere Party, die mir gut gefallen hat, war die für OFF THE RECORD, die in Bochum stattgefunden hat, darüber hinaus die Psychedelic Porn Funk Party in München, Latin Arab in Berlin, Golden Pudel in Hamburg und Makkam in London.
Welche Rolle spielt das Zuhören in deiner Arbeit? Wie wird das Zuhören wertschätzend? Aus deiner und der Sicht des Publikums und generell im Alltag? Wo positionierst du die Veranstaltung „OFF THE RECORD“ im Vergleich zu anderen Kulturen des Zuhörens?
Zuhören ist alles. So habe ich meine Ohren trainiert und so entdecke ich neue Platten. Die Erfahrung von OFF THE RECORD war etwas Außergewöhnliches. Für mich war es unglaublich, dass dieses Theater voll mit Leuten war, die Interesse daran hatten zwei DJs zuzuhören, die über Platten sprechen. Für die meisten ist es ein langweiliges Thema. Platten zu spielen und über sie zu sprechen sind zwei Paar Schuhe – Leute hören gerne Platten, aber haben vielleicht keinen großen Gefallen daran, über sie zu sprechen. Bei der Veranstaltung von OFF THE RECORD traf dies aber gar nicht zu. Wir haben zwei Stunden lang geredet und die Leute sind nicht weggegangen! Ganz im Gegenteil – sie wollten mehr über andere Kulturen erfahren und haben uns dementsprechende Fragen gestellt. Die Erfahrung war sehr schön.
Welche Erinnerung von der Veranstaltung „OFF THE RECORD“ möchtest Du mit uns teilen?
Ich würde das Bild teilen, das ich immer noch von einem vollen Theater habe. Leute haben draußen auf uns gewartet. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen, weil ich nur ein paar Leute erwartet habe. Die Energie war super.
Welche Gedanken stecken hinter der Auswahl, die du in deinem Set aufgenommen hast?
Es ist ein sehr kompliziertes Gedankenmuster. Ich kann es nicht wirklich erklären. Ich habe versucht, den Prozess hinter der Vorbereitung eines Sets zu verstehen, aber meine Intuition gestaltet mein Set immer mit und es wird zu einem Ereignis, besonders wenn es dein Stil ist, unbekannte Platten aus der ganzen Welt zu spielen. Normalerweise ändert sich die Auswahl der Platten auch beim Auflegen - es ist wichtig, auf das Publikum eingehen und reagieren zu können.
--
// Biografie
Ernesto Chahoud ist DJ, Kompilierer und Musikforscher aus Beirut. Er ist Mitbegründer des zehn Jahre alten Beirut Groove Collective und moderiert Radiosendungen auf NTS und Totally Wired Radio. „Taitu“ und die Neuauflage der Reihe „Middle Eastern Heavens“ gehören zu seinen Veröffentlichungen auf dem britischen Label BBE.
--
Weitere Folgen: