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Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen. Ein Gespräch mit Jens Schlamelcher

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Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen. Ein Gespräch mit Jens Schlamelcher

von: 
Interkultureller Kalender 2020

Der Interkulturelle Kalender feiert die einzigartige Vielfalt des Ruhrgebiets. Mit der Sonderedition des Jahres 2020 stellen wir jeden Monat interkulturelle Akteur*innen vor und laden zu Veranstaltungen an besonderen Orten ein. Im August geht es um religiöse Vielfalt in NRW: Fabian Saavedra-Lara hat mit Dr. Jens Schlamelcher vom Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr Universität Bochum gesprochen.

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Fabian Saavedra-Lara: Können Sie uns etwas über das Projekt „Religiöse Vielfalt in NRW“ erzählen?

Jens Schlamelcher: Das Projekt „Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen“ wurde im Jahr 2005 mit mehreren wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen durchgeführt. Ziel war die Erfassung sämtlicher Religionsgemeinschaften in NRW. Dabei sollte das gesamte religiöse Spektrum abgedeckt werden, von den Großkirchen und Freikirchen bis hin zu Moscheegemeinden, buddhistischen Tempeln und neureligiösen spirituellen Centern. Dabei ging es um das Sammeln von Eckdaten, mit deren Hilfe dann später auch Berechnungen über den Zusammenhang von religiöser Pluralität und religiöser Vitalität vorgenommen werden konnten. Im Jahr 2015 haben wir dann eine, auf wesentlich kleinerer Flamme laufende, Wiederholungsstudie angestoßen.

Welche interessanten Eckdaten gibt es im Kontext religiöser Vielfalt in der Region? Wie viele Religionsgemeinschaften gibt es zum Beispiel?

Das Projekt von 2005 hat folgende Ergebnisse offenbart: Insgesamt wurden über 8500 Gemeinden einschließlich neureligiöser Centren – die eher Kleinstunternehmen mit einem Einzelanbieter entsprechen – gezählt. Die überwiegende Mehrheit der Gemeinden, insgesamt über 6350, sind christlich, gegenüber ca. 700 Moscheegemeinden. Es wurden insgesamt ca. 1000 neureligiöse Kleinanbieter, z.B. Yogazentren gezählt. Die übrig gebliebenen ca. 1000 Gemeinden verteilen sich auf jüdische Synagogen, östliche Religionen einschließlich hinduistischer Tempel, buddhistischer Zentren und Freimaurern.

Die Verteilung der Gemeinden ist höchst unterschiedlich. Auf dem Land ist die religiöse Pluralität am geringsten ausgeprägt, in den Großstädten dagegen sehr. Gleichzeitig befinden sich hier die meisten religiös ungebundenen Menschen.

Auffällig war die sehr große Zahl an christlichen Gemeinden, die nicht zur katholischen Kirche oder zu den evangelischen Landeskirchen gehören. Das christliche Spektrum jenseits der Großkirchen scheint sehr vital zu sein, es gibt fast genauso viele derartiger Gemeinde.

Die Studie von 2015 hat einen Rückgang der Religionsgemeinden um ca. 10 Prozent ergeben. Vor allem sind hier die Großkirchen, aber auch solche christlichen Organisationen betroffen, die quasi-großkirchliche Strukturen aufweisen, also z.B. die Zeugen Jehovas oder die Neuapostolische Kirche. Ein Wachstum konnten wir nirgendwo feststellen, aber das lag auch daran, dass wir nicht genug Kapazitäten hatten, neue Gemeinden gezielt zu suchen.

Gibt es etwas, das vor dem Hintergrund religiöser Vielfalt für die Region spezifisch ist?

Historisch betrachtet ist natürlich für NRW interessant, dass es hier Gebiete mit überwiegend katholischen Anteilen wie im Münsterland oder Sauerland, und überwiegend protestantischen Anteilen gibt. In der Metropolregion Rhein-Ruhr ist die religiöse Pluralität ausgesprochen groß. Weiterhin ist bemerkenswert, dass trotz Migration und religiöser Pluralisierung die mit Abstand meisten Gemeinden einen christlichen Hintergrund aufweisen.

Welche Potentiale sehen Sie in Hinblick auf interreligiöse Dialoge? Welche Bedeutung hat diese Arbeit?

Als Wissenschaftler*innen beteiligen wir uns nicht direkt am interreligiösen Dialog, haben aber Kontakte zu Personen, die darin aktiv sind. Interreligiöse Dialoge sind hingegen auch für uns ein spannendes Untersuchungsfeld, in dem sich eigene Kommunikationsstrukturen etabliert haben, die aber oftmals recht abgekoppelt von dem sind, was in den Gemeinden passiert. Interessant hingegen ist, dass zahlreiche übergemeindliche Aktivitäten in Hinsicht auf Projekte zur Stadteilarbeit recht problemlos zu laufen scheinen. Es gibt aber noch keine mir bekannten Studien, die genau aufzeigen, wie die unterschiedlichen Gemeinden untereinander vernetzt sind.

Welche sind hier wichtige Akteur*innen?

Dazu bin ich kein Experte und empfehle Ihnen, sich an Prof. Dr. Nagel in Göttingen zu wenden.

Gibt es größere Trends, die Sie in Hinblick auf den Stellenwert von Religionen im Alltag der Region identifizieren können?

Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung von Religion sind die großen Trends, die die Religionssoziologie schon seit 60 Jahren feststellt. Alle Trends scheinen gleichzeitig zu laufen und sich eher wechselseitig zu bedingen. Insgesamt scheint das Vergemeinschaftungspotential von Religion noch immer abzunehmen. Während immer weniger Menschen religiös aktiv sind, ist der Umsatz von Büchern mit religiösem oder spirituellem Inhalt wachsend.
 
Unbenommen von dieser Entwicklung sind Migrantengemeinden. Gerade Migranten*innen der ersten und zweiten Generation tendieren zu einer religiösen Vergemeinschaftung. Ob das auch für spätere Generationen und religionsübergreifend gilt, muss sich zeigen. Insgesamt sind z.B. Muslime deutlich religiöser geprägt als andere. Circa 50% sagen, dass ihnen Religion wichtig oder gar sehr wichtig ist.

Wie sehen Sie die Zukunft des vielfältigen religiösen Lebens in der Region?

Es bleibt abzuwarten, wie sich Trends wie z.B. die Digitalisierung auch im Bereich der Religion niederschlagen und hier neue Formen von kommunikativer Vergemeinschaftungen jenseits von Face-to-Face-Interaktionen abbilden. Unter jüngeren konservativ geprägten Christen oder Muslimen ist dieses Phänomen relativ bedeutsam, und es gibt schon Studien, die sich mit dem Zusammenhang von Online- und Offline-Religiosität beschäftigen.

Ein weiterer Trend scheint mir eine Sporadisierung und Deprofessionalisierung religiöser Kommunikation zu sein. Im Zuge abnehmender Traditionskenntnisse und etablierter Rollen – viele gerade religiös ungebundene Menschen haben keinerlei Zugang zu Pfarrern – muss man sich im Bedarfsfall, etwa im Kontext von Trauer, z.B. in Form von Lektüre von Selbsthilfeliteratur oder durch eine Form von Instant-Religiosität selbst behelfen.

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Das Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) ist eine zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Ruhr-Universität Bochum. Weitere Informationen > hier.

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Die gedruckte Auflage des Interkulturellen Kalenders 2020 ist leider vergriffen. Eine digitale Version (pdf) zum Herunterladen gib es > hier.

Der Interkulturelle Kalender des Ruhrgebiets empfiehlt jeden Monat eine besondere Veranstaltung. Am 23. August laden wir zum Aşure-Tag mit der sunnitischen Gemeinde in Altenessen ein. Weitere Informationen > hier.

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