VER-WIR-RUNG. Zu Gigo Propagandas Portrait "Wir-Gefühl"
VER-WIR-RUNG. Zu Gigo Propagandas Portrait "Wir-Gefühl"
Ich bin verwirrt. Das ist doch schon mal ein Ergebnis und ein Zeichen dafür, dass Gigo Propagandas Kunst funktioniert. Sein Portrait in der Essener Nordstadt befasst sich mit dem "Wir-Gefühl", mit emotionalen Energien, die in Gruppenzugehörigkeits-Vorstellungen wirksam sind, mit Befindlichkeiten, die daraus entstehen, und mit so etwas wie dem "Zusammenhalt" von Gesellschaft.
Wie können wir in einer diversen Gesellschaft, in der viele unterschiedliche und teils widersprüchliche Vorstellungen nebeneinander existieren, zusammen leben? Bestimmt nicht, indem wir Konflikten aus dem Wege gehen. Verschweigen ist keine Kommunikationsstrategie. Ein Modus, in dem solche Konflikte ausgetragen werden können, ist allerdings in einem sozialen Klima, das heute wieder zunehmend von Ideologien geprägt ist, schwer zu finden und muss überall täglich neu ausgehandelt werden.
Derzeit spitzen sich Identitätsfragen v.a. in Debatten um Globalisierung, Flucht und Migration zu. Wer sind wir? Wer sind die anderen? Dabei werden abstrakte Unterschiede und abstrakte Gemeinsamkeiten gegeneinander ausgespielt, die mit der Sache oft wenig zu tun haben. Zunächst muss ich mal feststellen: Ich kenne mein Gegenüber nicht. Seine Vorstellungen beruhen auf Voraussetzungen, die mir nicht bekannt sein können. Kulturelle Unterschiede liegen oftmals quer zu dem, was ich aus meinem eigenen Weltbild heraus und vor meinem eigenen Erfahrungshorizont unterscheiden kann.
Parolen helfen hier nicht weiter. Der Erwerb interkultureller Kompetenzen ist ein Lernprozess, der offen ist für neue Erfahrungen. Differenzierung macht Differenzen sichtbar, aber auch Ähnlichkeiten. Darin liegt eine große Chance, aber sie setzt einen mühseligen kleinteiligen Kommunikationsprozess voraus, der von Vielen, wenn nicht von allen, geführt werden muss.
Die neue Ideologisierung ist eine reaktionäre Reaktion auf die zunehmende Komplexität sozialer Zusammenhänge, auf die Verunsicherung, womit und mit wem ich es zu tun habe. Ich soll Stellung beziehen in einem Feld des Unbekannten. Diese Situation ist nicht neu. Sie ist eine generelle Herausforderung der Moderne. Die Welt verändert sich, und ich bin nicht darauf vorbereitet. Meine Vorstellungen speisen sich aus dem, was ich kenne, und doch ist alles anders. Wie damit umgehen? Kann Kunst ein Mittel sein?
Gigo Propaganda "portraitiert" Diskurse. Der Künstler spricht mit Menschen auf der Straße, nimmt Aussagen zu gesellschaftlichen Themen auf und kolportiert sie im Film und auf Mauern und Wänden der Stadt. Die Portraits sind ein "Spiegel" der Gesellschaft. Die Radikalität seines partizipativen Ansatzes besteht darin, nicht zu kommentieren, sondern jede Haltung für sich stehen zu lassen. Widersprüchliche Aussagen stehen unvermittelt nebeneinander, überschreiben sich gegenseitig, vermischen sich zu einem Gewirr von Zeichen, aus denen ein "Bild" entsteht. Diese Bilder enthalten sozialen Sprengstoff. In ihnen wird das ganze Konfliktpotential offengelegt, das unter der Oberfläche scheinbaren Konseses schwelt. Die Unmenschlichkeit des Umgangs miteinander wird zur Kenntlichkeit entstellt.
Das Wetter war schön beim herbstlichen Rundgang durch das Essener Portrait. Die Teilnehmer*innen waren großenteils harmonisch gestimmt, schrieben sich mit emanzipatorischen und versöhnlichen Appellen ins Stadtbild ein. Die Videopremiere im Anschluss zeichnete eher ein düsteres Bild des "Wir-Gefühls" als Resonanzraum unpersönlicher Stereotypen, bei denen individuelle Schicksale auf der Strecke bleiben. In der Deckung der Gruppe, die eine komfortable Anonymität bereitstellt, potenzieren sich pauschale Urteile ins Groteske. Das "Wir-Gefühl" als Basis der Kooperation verkehrt sich ins Gegenteil und verhärtet sich zur Fratze der Ausgrenzung von allem, was nicht dazu gehört.
Eine Podiumsdiskussion sollte den Abschluss des Abends bilden. Unfreiwillig geriet die Veranstaltung zum Fazit einer künstlerischen Arbeit, die vorbehaltlos hinter die Kulissen schaut und das notwendig Falsche im Falschen zum Vorschein bringt. Keine fünf Minuten dauerte es, bis die Diskussion eskalierte und der erste Besucher unter lautem Protest den Raum verließ. Zwischen den ausgesprochen reflektierten Positionen war es nicht möglich, sich überhaupt dem Thema der Arbeit zu nähern. Trotz wiederholter Eingriffe der Moderatorin erschöpfte sich die Diskussion darin, sich an Scheinproblemen wie der "Objektivität" der Darstellung oder der Unterscheidung zwischen "Kunst" und "Schmiererei" abzuarbeiten.
Die Frage des "Wir-Gefühls", die Frage (inter)kultureller Kommunikation, die Frage einer zeitgemäßen demokratischen Gesellschaftsform ist eine Frage der Gesprächskultur, einer zivilisierten Form der Auseinandersetzung, und ich bin geneigt, das offensichtliche Misslingen eines Austauschs über eine künstlerische Arbeit, die dieses Thema behandelt, als Teil des Kunstwerks aufzufassen. Es macht deutlich, dass wir den Herausforderungen, die auf uns zukommen, nicht gewachsen sind. Vielleicht hat es eine WIR-KUNG. Es zeigt zumindest, dass wir uns selbst betrügen, wenn wir denken, dass wir wissen, was wir tun.
WE ARE ONE steht in großen Lettern auf dem aktuellen Flugblatt von Interkultur Ruhr, auch als Statement im Kontext der hitzigen Debatten im Vorfeld der Bundestagswahl 2017, die ein ebenso verzerrtes Bild der Realität abgeben. Hat eigentlich irgend jemand eine Ahnung, was auf dem Spiel steht und worum es hier geht? Die Welt ist klein. Die Welt verändert sich. Was ist wichtig? Das Wort zum Sonntag: Ich hoffe auf ein neues WIR-SCHAFFTS-WUNDER. Schluss mit lustig. Ich geh' jetzt wählen.
„Ruhrgebiet JETZT – Wir-Gefühl“ ist ein Projekt von Gigo Propaganda in Kooperation mit Interkultur Ruhr und Lokalfieber e.V., gefördert von Individuelle Künstler Förderung IKF / european center for creative economy.