„Wir sind nicht die Lösung eines Problems, das wir nicht geschaffen haben!“
„Wir sind nicht die Lösung eines Problems, das wir nicht geschaffen haben!“
Am 29.01.2019 luden atelier automatique und Interkultur Ruhr zu einem Abend mit der Kommunikationssoziologin, Autorin, Kuratorin und Dozentin Natasha A. Kelly in Bochum ein. Unter dem Arbeitstitel „Postkoloniale Perspektiven im Ruhrgebiet“ sollte der Versuch unternommen werden, in Kompliz*innenschaft mit Kulturarbeiter*innen und -aktivist*innen in einem Arbeitstreffen postkoloniale Perspektiven für die Kulturszene im Ruhrgebiet zu diskutieren. Mira Anneli Naß fasst ihre Eindrücke der Veranstaltung zusammen. Ihren kompletten Bericht gibt es hier zum Download.
In der ersten Veranstaltungshälfte stellte sich Natasha A. Kelly als akademische Wissenschaftlerin einerseits und Aktivistin andererseits mit den Schwerpunkten Postkolonialismus, Kolonialismus und Feminismus vor. Anhand der Präsentation ihres andauernden Projekts des „Postkolonialwarenladens“ EDEWA vermochte sie es, die Schnittstelle dieser zwei Positionierungen als Transferleistung zwischen Praxis und Theorie zum einen und Wissenschaft, Gesellschaft und Politik zum anderen herauszuarbeiten. Die Wanderausstellung sei in Zusammenarbeit mit Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin 2011/12 im Rahmen eines Seminars zu „May Amin. Schwarze deutsche Feministin?!“ am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien entstanden, dessen Anlass die Umbenennung des Berliner Groebenufers in May-Amin-Ufer 2010 gewesen sei. Diese Namensänderung des Kreuzberger Ufers von einem zentralen Akteur deutscher Kolonialverbrechen hin zu einer Schlüsselfigur der antirassistischen Bewegung in Deutschland markierte laut Kelly eine wichtige postkoloniale Perspektivumkehr und bot einen sowohl gesellschaftlichen, urbanen sowie wissenschaftlichen Rahmen, um Themen wie Kolonialismus, Rassismus und Sexismus zu bearbeiten.
Um auf käuflich erwerbbare Produkte mit rassifizierenden und diskriminierenden Fremdbezeichnungen und Abbildungen in Supermärkten aufmerksam zu machen, unternehme das Projekt EDEWA. Einkaufsgenossenschaft antirassistischen Widerstands den Versuch, die kapitalistische Tradition kolonialer Vermarktungsstrategien sichtbar zu machen. Angelehnt an die Einzelhandelskette EDEKA (Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin) appropriiert die multimediale Ausstellung kolonialistische Gestaltungsmerkmale von Supermärkten und deren Produktpalette. Unter anderem über zusätzliche großformatig gemalte Porträts von Feministinnen des Widerstands sowie ,Wegwerfdosen‘ für diskriminierende Fremdbezeichnungen, soll mithilfe einer aktiven Miteinbeziehung der Besucher*innen eine kritische Hinterfragung des eigenen Konsumverhaltens einerseits und die Sichtbarmachung eines konstruierten und normierten weißen Blicks einer hegemonialen Mehrheitsgesellschaft andererseits provoziert werden. Jedoch vermisse ich als Zuhörerin hier eine selbstreflexive Kontextualisierung des erfolgreichen Projekts an kritische Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Aktivismus oder einer zu hinterfragenden Aneignung ökonomischer Strategien zur Visualisierung und Vermittlung von (postkolonialem) Wissen.
Anwesende Vertreter*innen verschiedener aktivistischer regionaler Initiativen wie dem Salon der Perspektiven, der African Development Initiative oder einer Lokalgruppe von Afro Deutsches Akademiker Netzwerk, skizzierten im Anschluss an die Präsentation in wenigen Worten ihre Arbeit sowie zentrale Fragen und Lösungsstrategien gegen Ausgrenzungsmechanismen. Daran anknüpfend gestaltete sich der zweite Teil des Abends als eine produktive gemeinsame Bearbeitung und Hinterfragung von Strukturen, Phänomenen und Strategien für Empowerment und Sichtbarkeit anhand von inhaltlichen Anregungen, Kritik und Fragen verschiedener Teilnehmer*innen: Lassen sich strukturelle Probleme (alleine) auf sprachlicher Ebene lösen oder ist eine affektive Bearbeitung unumgänglich? Wie kann an die schmerzvolle Geschichte von Begrifflichkeiten erinnert werden, ohne diese zu reproduzieren? Welche Rolle spielen Archive im Umgang mit der Geschichte und wie können sie einer postkolonialen Auseinandersetzung zugute kommen? Wie verhalten sich die Begriffe Diversifizierung und Dekolonisierung zueinander und wie können wir mit ihren historischen Kontexten arbeiten?
Auffallend häufig wurden damit Fragen zur Diskussion gestellt, die einerseits eine potenzielle Antwort im Sinne einer gültigen Lösungsstrategie suggerieren und sich dabei andererseits an eine imaginierte Sprecher*innenfigur wenden, die die Vorstellung einer dezidiert nicht-weiß positionierten Stimme hervorruft. Damit ginge die Verantwortung für Lösungen bezüglich gesellschaftlicher Ausgrenzungsmechanismen jedoch wiederum zurück an von Rassismus betroffene Personen. Gemeinsam problematisierten wir hierzu die Form der Fragestellung, die mit der Einleitung des ,Wie‘ eine Suche nach Betroffenen impliziere, die dieses ,Wie‘ zu beantworten hätten. Die Verantwortung für eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung, für eine Auseinandersetzung mit gewaltvollen Strukturen und einer bewussten postkolonialen Positionierung liege jedoch vor allem bei jeder einzelnen Personen, die sich innerhalb privilegierter Strukturen bewege.
Bisweilen fehlte mir angesichts des Veranstaltungstitels die konkrete kollektive Auseinandersetzung mit regionalen Bezügen. Wie lassen sich postkoloniale Theorien und Fragestellungen auf den Raum Ruhrgebiet als eine Region beziehen, in der „das Leben zwischen den Kulturen […] Tradition“ hat und „von und mit der Zuwanderung“ lebt (Interkultur Ruhr)? Wie können hier postkoloniale Strategien fruchtbar gemacht werden und dabei nicht in theoretischer Latenz verharren? Die Präsentation von Kellys wissenschaftlichen und aktivistischen Projekten, die Kurzvorstellung der wertvollen Arbeit diverser regionaler Initiativen sowie der diskursive gemeinsame Austausch aller Beteiligten boten meines Erachtens dennoch wichtige Ansätze für weiterführende notwendige Reflexionen. Natasha A. Kelly vermochte es an diesem Abend, in einem enthierarchisierten und umsichtigen Dialog auf Umstände hinzuweisen, die das ,Unterfangen‘ des Postkolonialismus nicht zu ,linker Hippness‘ verkommen lassen, sondern es als gesamtgesellschaftliches Projekt herauszustellen, dem sowohl individuelle als auch kollektive Arbeit zugrunde liegt.
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Mira Anneli Naß hat Kunstgeschichte, Literatur- und Theaterwissenschaften in München und Florenz und Theorie & Geschichte der Fotografie an der Folkwang Universität der Künste studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Kunst der Moderne und der Gegenwart, vor allem Fotografie und zeitbasierte Medien im Kontext politischer Ästhetik. In ihrem aktuellen Dissertationsprojekt widmet sie sich den medialen Narrativen von Überwachung, Macht und Souveränität und setzt sich im Rahmen dessen unter anderem mit postkolonialen Theorien und Strategien des künstlerisch-aktivistischen Widerstands auseinander. Zuletzt erschien ihr Aufsatz "Krupp'sche Panoramen als Sichtbarkeitsdispositiv. Visuelle Strategien der Narration von (industrieller) Macht" in kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaft.
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> eine alternative Berichterstattung von Megha Kono-Patel & Miriam Yosef finden Sie hier.
Nächste Netzwerkveranstaltung:
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Fr. 14.06.2019, 18:30 Uhr
Blue Square, Bochum