Fassade
Es sehe in einigen Ecken von Duisburg aus wie in rumänischen Slums und bei manchen Menschen müsse man „die Fähigkeit zu wohnen in Frage stellen“. So wird ein Staatssekretär, der „den Lebensraum der Roma“ besucht habe, in regionalen Zeitungen zitiert. Die Roma-Familien bleiben die Anderen. Sie wurden nicht gefragt, was ihre Vorstellungen eines urbanen oder europäischen Zusammenlebens sind. Sie kommen nicht zu Wort, wenn es darum geht, wie sie sich ein Umfeld vorstellen könnten, wie sie leben möchten und was ihnen fehlt, damit sie fähig wären zu wohnen. Unsere Roma-Freunde hatten uns immer wieder eingeladen, mit ihnen nach Rumänien zu fahren. Dann und wann kehren sie hierher zurück, nicht weil sie Fahrende sind, sondern im Gegenteil: weil sie immer noch auf eine Heimat, eine Bleibe, eine Perspektive hoffen. Wir sind jetzt mitgereist, um mit ihnen die Situationen zu erkunden.
Wie müssen wir die prekären Verhältnisse verstehen? Auch in Rumänien leben sie abgedrängt, hinter den Industriezonen jenseits der Dörfer, wo es keine Straßen gibt und keine Straßennamen, nur durchnummerierte, festgetrampelte Pfade, auf denen auch immer wieder Pferdekarren vorbeiziehen. Hier sitzen wir, in der rumänischen Nachmittagssonne. Die Häuser auf kleinen Handtuchgrundstücken sind baufällig, drin gibt es kein fließendes Wasser, außer wenn starker Regen durchs marode Dach drückt. Hier fing alles an. Nach dem Mauerfall und dem Sturz von Ceaușescu folgte eine für die Minderheit verheerende Renationalisierung und Deindustrialisierung des Ostblocks, und damit begann für viele Familien eine Odyssee durch Westeuropa, getrieben von der Erfahrung, dass im Westen wenigstens kein Hunger und weniger direkte Gewalt vorherrscht. Für die Roma-Familien haben sich die Grenzen von Ost und West, von Nationalstaaten und sozialen Schichten jedoch nicht wie für alle anderen Europäer*innen in den letzten zwei Jahrzehnten aufgelöst. Sie machten eine andere Erfahrung. Die Segregation wird für sie zunehmend zur spezifischen Einengung, zur Stigmatisierung und persönlichen Ausgrenzung. Obwohl es hier in der Straße 218 von Pecica gerade mal 10 Euro Tageslohn für Gelegenheitsjobs gibt, und damit kaum eine Möglichkeit der Existenzsicherung besteht, scheint dennoch vage auf, wie sich die Familien ihr Leben einrichten würden. Sie träumen davon, ein gutes, eigenes Häuschen zu haben. Täglich schrubben sie den Boden, alle paar Tage mähen sie den Rasen. Sie bauten ein Bänkchen, hängten Gardinen auf und stellen Blumen in die Fenster. Trotz der Misere wird eine Ordnungsliebe hochgehalten, die fälschlicherweise als spezifisch deutsche Tugend und kulturelles Unterscheidungsmerkmal gilt.
Mit diesen Eindrücken beginnt unser gemeinsames Unterfangen, in den nächsten Monaten auch in Dortmund, Duisburg, Essen und Gelsenkirchen erneut über Klischees, Rassismus und Ausgrenzung nachzudenken. Unser Vorhaben ist, der Frage nachzugehen, wie im urbanen Kontext ein Ansehen, eine Würde und eine Selbstbehauptung auch ein Stück weit den Menschen zukommen kann, die mit ihren eigenen Lebens- und Erfahrungszusammenhängen in den Städten entlang der Ruhr nicht oder nur sehr marginalisiert repräsentiert sind.
Text: Christoph Wachter und Mathias Jud, 2016
Christoph Wachter und Mathias Jud wurden beide in Zürich geboren und leben heute in Berlin. Seit 2000 realisieren sie gemeinsam Kunstprojekte, bei denen die eigene Betrachtungsweise und Befangenheit in machtpolitisch geprägten Zusammenhängen im Vordergrund steht. In einer Reihe partizipativer Community-Projekte haben sie Wahrnehmungsprozesse und Darstellungsoptionen befragt. Seit 2011 dient das Projekt „Hotel Gelem“ zusammen mit Roma-Communities in ganz Europa als Interface, um Formen der Stigmatisierung und Sprachlosigkeit zu adressieren.