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Innehalten. Einige Gedanken nach sechs Jahren Interkultur Ruhr

Johanna-Yasirra Kluhs und Fabian Saavedra-Lara, Kulturkonferenz Ruhr, Duisburg 2018. Foto: Guido Meincke

Innehalten. Einige Gedanken nach sechs Jahren Interkultur Ruhr

von: 
Johanna-Yasirra Kluhs & Fabian Saavedra-Lara

Liebe Weggefährt:innen, Kompliz:innen, Kooperationspartner:innen und Akteur:innen,

zum Jahreswechsel 2021/22 blicken wir voller Dankbarkeit und Demut auf die Aufgabe zurück, Interkultur Ruhr in den letzten sechs Jahren begleitet haben zu dürfen. Zwar kommt unsere Zeit als Kuratorisches Team von Interkultur Ruhr jetzt zum Abschluss – nicht jedoch das Projekt! Wir freuen uns darauf, im kommenden Jahr den Staffelstab weiterzureichen und gemeinsam mit dem Regionalverband Ruhr ein neues Team kennenzulernen, unsere Erfahrungen und unser Wissen weiterzugeben.

Im Rückblick zeigt sich, wieviel in der gemeinsamen Zeit bei Interkultur Ruhr im großen gesellschaftspolitischen Rahmen geschehen ist und was sich verändert hat: Die Gründung des Förderfonds von Interkultur Ruhr beispielsweise geschah als direkte kulturpolitische Reaktion zur Stärkung des vielfältigen zivilgesellschaftlichen Engagements im Ruhrgebiet und vielen weiteren Regionen im Kontext der Flucht- und Migrationsbewegungen 2015/16 ff. Viele dieser solidarischen Initiativen, Projekte und Bündnisse haben wir somit in ihren Anfangs-, Verstetigungs- und zuweilen notwendigen Transformationsprozessen unterstützen können. Wir haben auch einen Rechtsruck bei der Bundestagswahl 2017 miterleben müssen und sind Zeug:innen der rassistischen Mordanschläge in Halle und Hanau geworden. Gleichzeitig bot Interkultur Ruhr die Möglichkeit, den Wandel der Diskussion über Migration, Diversität, Repräsentanz und Teilhabe in der Gesellschaft aktiv mitzugestalten.

Aus diesen Erfahrungen heraus gesprochen möchten wir an dieser Stelle gern nochmals einige Punkte benennen, die uns wichtig erscheinen und nicht oft genug erwähnt werden können. Eine wesentliche Feststellung (unabhängig von den Begriffsdiskussionen) ist: Interkultur ist kein Minderheiten- oder Spartenthema. Gut ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung hat eine sogenannte "Migrationsgeschichte". Schaut man in den Bildungssektor sind es bereits 40% der Schüler:innen. Eine zentrale kulturpolitische Aufgabe in diesem Zusammenhang besteht in der notwendigen Pluralisierung der gesellschaftlichen Erzählungen im Ruhrgebiet, in Deutschland und Europa sowie in einer Normalisierung der schon immer existenten gesellschaftlichen Heterogenität – nicht nur entlang der Kategorie "Herkunft", sondern auch entlang von Gender, Klasse, Ability und weiteren Determinanten.

Ein Projekt wie Interkultur Ruhr ist ein nützliches Vehikel auf dem Weg zu dieser Pluralisierung; es kann unsichtbar gemachtes künstlerisches und kulturelles Schaffen sichtbar machen, Zusammenhänge herstellen, auf historische Kontinuitäten und Brüche hinweisen, politische Forderungen stellen und Projekte punktuell durch Fördergelder unterstützen. Letztendlich sind dies gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die auch alle Bereiche der Kultur und ihre Institutionen betreffen. Es ist klar: Die Förderstrukturen für die Freie Szene müssen sich ihren eigenen Diskriminierungsmechanismen stellen. Das heißt nicht nur, Fördermittel anders zu vergeben, sondern einer langjährigen Deklassierung migrantischer, migrantisierter, Schwarzer und Künstler:innen of Color durch eine gerichtete Aufstockung von Fördermitteln zu korrigieren. Es muss angesetzt werden bei der Diversifizierung von Teams und Leitungsstrukturen, einer neuen Diskussion über die Programmarbeit und Zielgruppen von großen, mit Prestige aufgeladenen Kulturprojekten, der Erhöhung der Zugänglichkeit von Förderprogrammen, die Anerkennung von marginalisierten künstlerischen Praxen in der Region und die Entwicklung von Sensibilität und Resilienz gegenüber Rassismus und weiteren Formen der Diskriminierung.

Auch sehr bedeutsam scheint uns zu sein – im Sinne der Migrationsforscherin Naika Foroutan – im Kulturbereich strategische Allianzen, auch mit der Mehrheitsgesellschaft und ihren Institutionen einzugehen, um die Arbeit am gesellschaftlichen Wandel auf eine breitere Basis zu stellen. Schaut man auf die Strukturen im Ruhrgebiet könnte dies beispielsweise die Öffnung von renommierten, gut ausgestatteten Institutionen für Akteur:innen aus der Region bedeuten oder eine gemeinschaftliche kuratorische Weiterentwicklung bestehender regionaler Großprojekte. Die aktive Erinnerungsarbeit und das Erkämpfen von Räumen für marginalisierte Geschichten und Wissen hat sich in den letzten Jahren ebenso als ein Handlungsfeld mit großem Zukunftspotential herausgestellt. Denn um für eine gleichberechtigte, offene Gesellschaft zu kämpfen, müssen wir wissen, worauf wir uns beziehen können, ist es wichtig, die Erinnerungskultur an große historische Ereignisse und Brüche vielstimmig mitzugestalten: Die Anerkennung der Geschichte der (Arbeits-)migration als eine Kraft, die die deutsche Gesellschaft maßgeblich geprägt und positiv mitgestaltet hat, ist ein solches Thema, ebenso wie die Erinnerungskultur im Kontext des Kolonialismus, des Aufbruchs von '68, der deutschen Einheit und eine Pluralisierung der Sozialgeschichte, zum Beispiel in den Erzählungen über Arbeitskämpfe, Strukturwandel und Emanzipation.

Das Projekt Interkultur Ruhr hat in seiner Gründungsphase in vielen verschiedenen künstlerischen und kulturpolitischen Prozessen, Formaten, Veranstaltungen, Ausstellungen, Performances, Aufführungen, Workshops, Filmabenden, Diskussionen und Interventionen gezeigt, welche Relevanz und welches Potential die skizzierten Themen für die Region haben.

Die Arbeit bei Interkultur Ruhr hat uns in den vielen erfolgreichen Projekten, aber auch im Nichteinverstandensein und Dissens stets weitergeführt. Dies war eine Aufgabe, die unseren Blick auf Kunst, Kultur und Gesellschaft sowie auch unsere individuellen Praxen verändert hat, und wir fühlen uns geehrt, im Gründungsteam mitgearbeitet zu haben. Wir möchten dem RVR und dem Ausschuss für Kultur, Sport und Vielfalt, dem Land NRW, den Kulturbeigeordneten des Ruhrgebiets und unserem Beirat für die stets vertrauensvolle und wertschätzende Zusammenarbeit danken! Wir möchten uns auch bei den vielen Kolleg:innen im Projektteam Interkultur Ruhr und im RVR bedanken, mit denen wir in wechselnden Konstellationen zusammenarbeiten durften: Leonie Arnold, Alexandra Becker, Birgit Berndt, Manuel Bürger, Fatima Çalışkan, Anika Ellwart, Jürgen Fischer-Pass, Karola Geiß-Netthöfel, Yvonne Giebel, Michaela Hennenberg, Thomas Hensolt, Uwe Hitschler, Seb Holl-Trieu, Jola Kozok, Guido Meincke, Yasemin Tayeboun, Stefanie Reichart, Patrick Ritter, Lena Tom Dieck, u.v.a. .... Unseren Nachfolger:innen wünschen wir alles Gute, den notwendigen Mut, Zuversicht und gutes Gelingen für diese wunderbare Aufgabe.

Ganz besonderer Dank gilt euch Weggefährt:innen, Kompliz:innen, Kooperationspartner:innen und Akteur:innen im Ruhrgebiet, die ihr das Programm von Interkultur Ruhr in den vergangenen sechs Jahren durch eure herausragende Arbeit überhaupt erst ermöglicht und geprägt habt! Und wir denken an all diejenigen Künstler:innen, Kulturarbeiter:innen und Aktivist:innen vor uns, die ganz wesentlich zum künstlerischen und kulturellen Leben in der Region beigetragen haben, jedoch jahrzehntelang ignoriert, belächelt, nicht ernst genommen, unsichtbar gemacht, schlecht oder nicht bezahlt und aus den Institutionen ausgeschlossen, an die Ränder gedrängt worden sind. Ohne ihr grundlegendes Engagement wäre das Ruhrgebiet heute und wären unsere aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten nicht zu denken. Und wäre Interkultur Ruhr und unsere Arbeit: Gar nicht erst möglich gewesen. Zeit, den Asterisken durch einen Doppelpunkt zu ersetzen: Mehr Platz für uns:euch:sie alle. Wir bleiben in Bewegung.

Fühlt Euch umarmt, wir sehen uns bald wieder. An die Gesellschaft der Vielen: Bleibt zusammen! Bleibt unruhig! Bleibt zärtlich! Bleibt Viele!

¡SHINE ON!

Johanna-Yasirra Kluhs & Fabian Saavedra-Lara
Kuratorische Leitung Interkultur Ruhr 2016-21

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>> Publikation: Worauf wir uns beziehen können. Interkultur Ruhr 2016-21

>> Interkultureller Kalender 2022

 

Johanna-Yasirra Kluhs, Jola Kozok und Fabian Saavedra-Lara 2017. Foto: Sabitha Saul
Johanna-Yasirra Kluhs, Netzwerktreffen, Ringlokschuppen Ruhr, Mülheim an der Ruhr 2017. Foto: Guido Meincke
Fabian Saavedra-Lara, Rebetiko Ruhr, Ruhrtriennale, Bochum 2019. Foto Guido Meincke
Fabian Saavedra-Lara und Johanna-Yasirra Kluhs mit Seb Holl-Trieu, Vorstellung des Interkulturellen Kalenders, Unterhaus, Oberhausen 2020. Foto: Guido Meincke
Abschlusstreffen in der WerkStadt / Pact Zollverein, Essen 2021. Foto: Guido Meincke
Pangaea wählt. Plakatkampagne 2021. Foto: Guido Meincke
An die Gesellschaft der Vielen: Shine on! Plakatkampagne 2020
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