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Musikalische Praxis anders denken. Ein Rückblick auf das 5. Netzwerktreffen Interkultur Ruhr

5. Netzwerktreffen Interkultur Ruhr am 23.11.2017 im Katakomben-Theater Essen

Musikalische Praxis anders denken. Ein Rückblick auf das 5. Netzwerktreffen Interkultur Ruhr

von: 
Max Florian Kühlem

Beim 5. Netzwerktreffen Interkultur Ruhr am 23.11.2017 diskutierten Expert*innen und Interessierte im Katakomben-Theater in Essen über “Weltmusik 2.0”. Mit Gesprächen, kulinarischen Genüssen von Refugees’ Kitchen und einem diversen Musikprogramm bildete die Veranstaltung den Abschluss der ersten beiden Jahre des Projekts Interkultur Ruhr. Der Kulturjournalist und Musiker Max Florian Kühlem war unser kritischer Zaungast und hat rückblickend diese Notiz verfasst.

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Es ist nicht einfach, im Jahr 2017 über eine Form von Musik zu reden, die man früher Weltmusik genannt hat und heute meist mit dem Begriff Global Pop umschreibt. Diesen Diskursraum, in dem auch Begriffe wie Folklore oder Weltmusik 2.0 eine Rolle spielen, hat das 5. Netzwerktreffen von Interkultur Ruhr vermessen – am 23. November 2017 mit zwei Gesprächsrunden und zwei Konzerten im Katakomben-Theater Essen. Dabei wurde deutlich, dass der Begriff Weltmusik heute als wenig zeitgemäß empfunden und als Ausdruck einer eurozentristischen Perspektive gesehen wird. Selbst auf die heute gängigeren Begriffe Global Pop oder globale Musik könne man möglicherweise verzichten, indem man einfach von „Musik“ spreche. Der Begriff Weltmusik 2.0 eröffne jedoch auch utopisches Potential, weil er das Werk von Künstler*innen beschreibe, die sich selbstverständlich auf eine transkulturelle Welt beziehen und eine „multilokale Avantgarde des 21. Jahrhunderts“ bilden.

„Warum ist das für uns überhaupt interessant?“ Diese Frage stellte sich Interkultur-Ruhr-Kurator Fabian Saavedra-Lara zum Einstieg selbst. Die Antwort: Weil er sich mit Kurations-Kollegin Johanna-Yasirra Kluhs in besonderer Weise mit globalen Pop-Phänomenen beschäftigen wollte – indem Interkultur Ruhr eine dezentrale Perspektive entwickelte. Das geschah durch sogenannte Listening Sessions der Label-Betreiber*innen Avril Ceballos (Cómeme) und Guy Dermosessian (Kalakuta Soul Records). Das geschieht, indem man auf dem Netzwerktreffen in Essen diese Fragen stellt: Wie zirkulieren Musik-Phänomene um die Welt? Wie können wir westliche Rezeptionsmuster dekonstruieren? Welche Rolle spielen digitale Ästhetiken? Welche Kooperationen entstehen gerade?

Für das erste Gespräch „Labelpraktiken vor dem Hintergrund von Weltmusik 2.0“ hatten die Wissenschaftler Kieran Kaul von der Kunsthochschule für Medien Köln und Jonas Eickhoff vom Institut für Soziologie Münster sechs Label-Betreiber*innen zusammengebracht. Ihre Diskussion war vom schwierigen Spagat bestimmt, aus einem mehrheitlich mit europäischen Männern besetzten Podium eine dezentrale Perspektive zu entwickeln. Philipp Rhensius von Norient skizzierte zum Einstieg mit einem Impulsvortrag seine „kleine, beschränkte Perspektive auf Weltmusik 2.0“: Musik sei für ihn mehr als Unterhaltung, sei gemeinschaftsstiftend, könne ein Labor sein für eine bessere Welt. Grenzen seien in musikalischen Praktiken längst eingerissen, das „Fremde“ werde als Chance für Neues wahrgenommen, das Polyzentristische dieser Praxis könne gegen das Weltbild von reaktionärer, identitärer Ideologie stehen.

Philipp Rhensius wies allerdings auch darauf hin, dass gerade im Sprechen, Schreiben und Berichten über Musik das „Exotisieren“, also das Hervorheben des Fremden, Andersartigen, die Unterteilung also der Welt in „Wir“ und „Die“ immer noch ein Problem darstelle. Als Beispiel für im wahrsten Sinne des Wortes „verrückte“ und reduktionistische Phänomene nannte er die Duduk-Flöte, die seit ihrem Einsatz in Peter Gabriels Filmmusik zu „Die letzte Versuchung Christi“ in vielen Filmen oder Musik, die Fernsehberichte untermalt, für den islamischen Kulturraum herhalten muss – „dabei stammt sie eigentlich aus dem christlichen Kulturraum“.

„Popmusik ist immer postkolonial“, stellte der Labelbetreiber als These in den Raum, „jede*r Künstler*in wird immer noch mit seiner/ihrer Herkunft erklärt und assoziiert.“ Dagegen setzte er die künstlerischen Praktiken von Weltmusik 2.0: Musikalische Projekte entstehen durch weltumspannenden, digitalen Austausch, die Künstler bildeten eine „multilokale Avantgarde des 21. Jahrhunderts“.

Geldgeber*innen für musikalische Projekte stammten zwar oft aus Europa, was eine eurozentrische Sicht und kulturelle Identitäten befördere. Viele Musiker*innen bezögen sich aber schon selbstverständlich auf eine transkulturelle Welt. Als Beispiele nannte er die Labels Underground Resistance oder NON Worldwide, das visuell wie eine paramilitärische Organisation auftrete und mit dem Projekt „Awesome Tapes from Africa“ auf MP3s, Kassetten, Piraterie und Tauschwirtschaft setze – und die Eintrittsschwelle so quasi eliminiere.

Die anschließende Diskussion der Label-Betreiber*innen nahm vornehmlich die Thesen des Impulsvortrags auf. In einem Bericht von Stefan Schneider (TAL) bestätigte sich zum Beispiel, wie der Anschub eines globalen Musik-Projekts oft durch europäische Geldgeber geschieht – in diesem Fall durch einen durch das Goethe-Institut finanzierten Aufenthalt in Kenia: Schneider machte sich dort auf die Suche nach traditioneller Musik, machte Aufnahmen abseits der Städte und ermöglichte den Künstler*innen, in Deutschland aufzutreten.

Welche Probleme bei einem Auftritt in Deutschland entstehen können, skizzierte Mark Ernestus vom Label Ndagga. Seine Ndagga Rhythm Force fragte sich vor einer Tour ganz konkret: Was sollen wir auf der Bühne anziehen? Was ist normal: Wie Europäer erwarten, dass Senegalesen sich anziehen? Wie man sich hierzulande kleidet? „Ich will eigentlich Folkloristisches, Exotisches vermeiden, aber ich will die Musiker auch nicht bevormunden, Jeans und T-Shirt anzuziehen“, so der Labelbetreiber.

Moderator und Organisator Jonas Eickhoff brachte das Dilemma in einem Zwischeneinwurf auf den Punkt: „Wenn man als europäische*r Musiker*in andere Stile integriert, ist man eurozentristisch. Wenn man mit Musiker*innen aus ärmeren Regionen zusammenarbeitet, beutet man sie kapitalistisch aus. Wenn man sich für traditionelle Musik interessiert, ist man postkolonialistisch. Wie also darüber sprechen?“

Der erfrischendste Einwurf dazu kam von der einzigen Frau auf dem Podium, Avril Ceballos von Cómeme: „Weltmusik 1.0 oder 2.0 sind sehr europäische Phänomene. Ich als Mexikanerin spreche lieber einfach von Musik – und die ist durch die neuen Möglichkeiten selbstverständlich weltumspannend. Das Label Cómeme hat so angefangen: Südamerikaner hatten Interesse an House-Music aus Südafrika und man konnte schnell kooperieren, weil es das Internet gibt.“

Am Ende nahm die Diskussion noch eine überraschende Wendung: Bernd Friedmann von Nonplace sprach sich da gegen Quoten bei Musikfestivals aus, die zum Beispiel 50 Prozent weibliche Beteiligung vorschreiben, um Dominanz-Hierarchien auszuschalten: „Wenn ich als Künstlerin nur durch eine Quote zu meinem Recht gekommen bin, bin ich in einer schwachen Position.“ Hier regte sich dann sogar Protest im Publikum.

Avril Ceballos setzte da einen guten und engagierten Schlusspunkt: „Es gibt Hierarchien auf der Welt, die muss man aushebeln durch Quoten. Und es ist nicht so schwierig, Vertreter von Minderheiten – egal welcher Art – zu finden, wenn man nur etwas recherchiert. Es ist 2017 und wir reden immer noch von demselben Scheiß!“

Auch die zweite Gesprächsrunde schlug zwischenzeitlich hohe Wellen – was vor allem an der Beteiligung von Uri Bülbül vom Katakomben-Theater lag. Unter dem Titel „Folklore, Weltmusik und Globalismus im Ruhrgebiet“ diskutierte er unter der Moderation von Glaucia Peres da Silva von der Universität Duisburg-Essen mit Christian Esch (Kultursekretariat NRW), Bertram Frewer (Kulturbüro Bochum), Elke Moltrecht (Akademie der Künste der Welt) und Claudia Saerbeck (Ringlokschuppen Mülheim).

Elke Moltrecht stellte in ihrem Anfangs-Statement erst kurz die aktuelle Situation der Akademie der Künste der Welt dar: Sie werde derzeit finanziell quasi ausgetrocknet. „Die Politik sagt: ‚Wir haben nicht sichtbar die Kulturen der Welt nach Köln gebracht.‘ Dabei fächern wir Diskussionen bewusst breit, wollen die volle Komplexität auf den Tisch bringen. Aber die Erwartungshaltung ist vielleicht doch Ethnokitsch.“ Mit dem Begriff „Weltmusik“ verbinde sie eine herablassende Haltung, Globale Musik impliziere alle musikalischen Facetten.

Christian Esch ging in seinem Statement noch einen Schritt weiter: „Der Begriff Weltmusik ist ein Missverständnis, aber die anderen sind auch problematisch. Statt ‚Globale Musik‘ kann man auch einfach ‚Musik‘ sagen.“ Im Kultursekretariat entwickle man beispielsweise Programme wie das Format „Dialoge“, in dem Akteure aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen, die sonst kaum zur Geltung kommen. „Wir bieten Freiräume, die der Markt nicht bietet und fragen: Was ist möglich? Wie kann man Erfahrungen aus diesen Prozessen vielleicht generell für interkulturelle Kommunikationsprozesse verwenden?“

Uri Bülbül deutete schon in seinem ersten Wortbeitrag an, wie schwierig es für Menschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund immer noch ist, in den kulturellen Organisationsstrukturen Fuß zu fassen. „Deshalb bin ich dem RVR und Interkultur Ruhr sehr dankbar, dass das Netzwerktreffen hier stattfindet. Dieses Theater wird von Migranten geleitet und wenn Gelder zur Verfügung stehen, dann bitte ich darum, auch einmal zu überdenken, ob man sie nicht Menschen mit Migrationshintergrund zur Verfügung stellt, die seit Jahren hier arbeiten – und nicht als erstes eine Band von weither zu suchen.“

Claudia Saerbeck skizzierte, wie das Team im Ringlokschuppen ganz praktisch den Anspruch erfüllen will, ein Haus für Alle zu sein, Inklusion zu leben. „Wir haben Kabinen für Übersetzer*innen, eine mehrsprachige Homepage, Kulturscouts aus verschiedenen kulturellen Communities, Auszubildende aus Guinea und Syrien. Eigentlich müssten wir in letzter Konsequenz selbst unsere Sessel räumen.“ Einen Fortschritt hat sie im Publikum von Konzert-Reihen wie „Odyssee“ ausgemacht: „Früher kamen zum Beispiel zu türkischen Bands 89 Prozent Menschen mit türkischer Herkunft. Das hat sich sehr verändert und viel stärker gemischt.“

Betram Frewer plädierte für Mut und Geduld der Veranstalter von neuen Formaten. Zu den „Odyssee“-Konzerten der Freilichtbühne Wattenscheid kämen mittlerweile immer um die tausend Besucher. Als das Festival Ruhr International vom Haus Kemnade wegziehen musste, habe man bewusst auf einen stark frequentierten Ort gesetzt: Die Jahrhunderthalle Bochum und ihren Vorplatz im Westpark. Hier würden musikalische Acts von hoher Qualität quasi von selbst sichtbar.

Im weiteren Verlauf der Diskussion untermauerte Uri Bülbül nochmal seinen Punkt von den Schwierigkeiten der im Ruhrgebiet lebenden, migrantisch geprägten Bevölkerung im Ruhrgebiet: „Es gibt keine Verteilungsgerechtigkeit oder Chancengleichheit. Migranten, so Typen wie ich, kommen zu mir und sagen: Uri, verleih uns eine Stimme! Schaut euch das Podium an: Außer der Moderatorin sitze hier nur ich als migrantisch geprägte Person. Und selbst was hier passiert, würde an größeren Theatern nicht passieren, weil die Machtstrukturen so sind.“

Elke Moltrecht konnte dem nur beipflichten: „Es reicht nicht, nur immer von Projekt zu Projekt kurz mit Menschen mit ‚anderem‘ Hintergrund zusammenzuarbeiten. Sie müssen auf den Leitungsebenen angesiedelt werden.“

Schließlich fand man doch zu einem versöhnlichen Schlusswort. Uri Bülbül: „Ich sehe eine Chance auf echten Dialog. Aber es muss klar sein, dass es nicht heißen darf: WIR machen etwas mit EUCH, sondern alle erarbeiten etwas zusammen.“

Der volle Theaterraum und eine durchaus interessierte und engagierte Diskussion, die auch aus dem Publikumsraum angestoßen wurde, zeigten, dass Interkultur Ruhr mit der Infragestellung des Weltmusik-Begriffs einen spannenden und aktuell relevanten Diskursraum eröffnet hatte. Im Selbstverständnis heutiger Musiker spielen Nationen-Grenzen und kulturelle Zugehörigkeiten oft keine Rolle mehr – schon gar nicht die größte. Dass es trotzdem traditionelle Musikformen gibt, die man nach wie vor mit dem Begriff der Folklore fassen kann, wurde in beiden Podien deutlich – doch auch diese tradierten Formen seien im Fluss, flössen in neue Stile ein. Wie das aussehen könnte, zeigten zwei musikalische Projekte im Anschluss: Das Transaesthetics-Project feat. Utku Yurttas & Nehrin Kurt verband orientalische Klänge und Lieder mit westlichem Jazz. Die Gruppe Uwalmassa aus Jakarta übersetzte mit drei Performern und zwei Visual-Artists traditionelle Klänge und Rhythmen ins Internetzeitalter.

5. Netzwerktreffen Interkultur Ruhr: Weltmusik 2.0
Avril Ceballos (CÓMEME) und Fabian Saavedra-Lara (Interkultur Ruhr)
Podiumsdiskussion mit Avril Ceballos (CÓMEME), Mark Ernestus (Ndagga), Florian Meyer (DISK), Stefan Schneider (TAL), Kieran Kaul (KHM), Philipp Rhensius (Norient), Jonas Eickhoff (IfS & IfE) und Bernd Friedmann (Nonplace)
Impulsvortrag von Philipp Rhensius (Norient)
Florian Meyer (DISK) und Stefan Schneider (TAL)
Moderator Jonas Eickhoff (IfS & IfE) und Bernd Friedmann (Nonplace)
Podiumsdiskussion mit Claudia Saerbeck (Ringlokschuppen Ruhr), Elke Moltrecht (Akademie der Künste der Welt & Ensemble Extrakte), Glaucia Peres da Silva (Universität Duisburg-Essen), Christian Esch (NRWKS), Uri Bülbül (Katakomben-Theater und Bertram Frewer (Kulturbüro Bochum)
Elke Moltrecht (Akademie der Künste der Welt & Ensemble Extrakte) und Moderatorin Glaucia Peres da Silva (Universität Duisburg-Essen)
Christian Esch (NRWKS) und Uri Bülbül (Katakomben-Theater)
Publikumsdiskussion beim 5. Netzwerktreffen Interkultur Ruhr
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