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Zu Widerspruch und Widerstand aus der Roma-Minderheit gegen NS-Bewegung und NS-System in der Rhein-Ruhr-Region

Tag der Befreiung

Zu Widerspruch und Widerstand aus der Roma-Minderheit gegen NS-Bewegung und NS-System in der Rhein-Ruhr-Region

von: 
Ulrich F. Opfermann

DIE VIELEN NRW rufen mit verschiedenen Aktionen dazu auf, den 8. Mai als “Tag der Befreiung vom Faschismus” zum Anlass zu nehmen, sich mit den immer noch spür- und sichtbaren Auswirkungen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Wir haben den Historiker Dr. Ulrich Opfermann gebeten, uns Einblick zu geben in seinen aktuellen Forschungsstand zu Geschichten des Widerstands in der Zeit von 1933–45 in unter als Sinti und Roma geführten Ruhrgebietler*innen.

Interkultur Ruhr möchte damit an Formen des Widerstands aus den Minderheitengesellschaften des Ruhrgebiets erinnern und auf dessen historische Kontinuität aufmerksam machen: Das Wissen darum soll gestärkt werden, dass Mitbürger*innen, die menschenverachtenden Zuschreibungen und ebensolcher Verfolgung ausgesetzt waren und sind, sich darüber tätig ermächtigen. Diese zuweilen als klein oder alltäglich benannten Strategien möchten wir als realen Widerstand ehren.

Das Stadtarchiv Duisburg / Zentrum für Erinnerungskultur, Menschenrechte und Demokratie hat die Wanderausstellung “Rassendiagnose: Zigeuner" – Der Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf um Anerkennung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in das Kultur- und Stadthistorische Museum gebracht. Teil der Ausstellung ist eine eigens erfolgte Erfassung lokaler Geschichten. Ulrich Opfermann war an dieser Aufklärung beteiligt. Zum 8. Mai teilt er im Sinne der Realgeschichte konkrete Geschichten von Bürger*innen an Rhein und Ruhr. Diese Geschichten von Gewalt und Widerstand beruhen auf historischem Quellenmaterial und stellen so auch historisch gewalttätige Sprache aus, die durch Anführungsstriche als Fremdmarkierungen ausgewiesen sind.

Die Ausstellung in Duisburg steht Besucher*innen aktuell offen: http://www.stadtmuseum-duisburg.de/blog. Informationen zu den Modalitäten hinsichtlich des Ausstellungsbesuchs, zu Einschränkungen der Veranstaltungen wie auch des Begleitprogramms zu den Ausstellungen werden gemäß der aktuellen Situation und den jeweiligen Vorgaben laufend angepasst.

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Zu Widerspruch und Widerstand aus der Roma-Minderheit gegen NS-Bewegung und NS-System in der Rhein-Ruhr-Region

Ulrich F. Opfermann

Vorbemerkungen

Ein noch kaum bearbeitetes Thema der Zeitgeschichte der mitteleuropäischen Roma-Minderheiti ist das einer aktiven Haltung in dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber der NS-Gefahr und der NS-Verfolgung. Dazu ist, auch was die Gesamtheit der europäischen Roma angeht, wenig zu hören.ii Was den ersten Abschnitt dieser Geschichte, die Jahre des Aufstiegs der NS-Bewegung angeht, ist nur zu sagen, dass sie insbesondere in den unteren Sozialschichten zweifellos schon früh als Gefahr erkannt wurde, die zu bekämpfen war. Auf der Basis einer demokratisch verfassten Republik entwickelte sich daher ein starker Widerstand gegen sie, der auch Unterstützer im Bürgertum hatte. Das kann an der Minderheit nicht vorbeigegangen sein. Dass ihre Angehörigen alle schwiegen, obwohl die völkische Hitlerbewegung und ihre Anhänger fortwährend aggressiv gegen nicht „deutschblütige“ Minderheiten hetzten und kein Hehl aus ihren Zielen machten, das ist unwahrscheinlich. Aber es ist bislang kaum etwas über ihre Reaktionen zu erfahren. Und das gilt ähnlich für die Jahre ab 1933. Wir stoßen auf ein klassisches Forschungsdesiderat.

Die offenkundige minderheitsgeschichtliche Leerstelle könnte sich aus der Vorstellung erklären, dass Roma und Romnja vor allem oder ausschließlich als eine Gruppe mit einer abweichenden „Ethnizität“ wahrzunehmen seien und politische und soziale Einordnungen hier fehl am Platz seien. Das wäre dann allerdings eine sehr eingeschränkte Perspektive, denn selbstverständlich waren diese Menschen vielfältig mit der sie umgebenden Gesellschaft verbunden, und sicher gab es unter ihnen auch den individuellen Blick auf die politischen und sozialen Verhältnisse und dazu Positionierungen. Sichtet man die biografischen Selbstzeugnisse und schaut man in die archivalischen Primärquellen, dann bestätigt sich, dass es ebenso wie im Falle anderer sozialer und „ethnischer“ Bevölkerungsgruppen eine aktive NS-Gegnerschaft vor wie nach 1933 auch in der deutschen Roma-Minderheit gab.

Hinweise auf politische Aktivitäten gegen die sich verschärfende Rechtsentwicklung vor 1933 begegneten mir bislang für Berleburg, Breslau, Düsseldorf, Essen, Frankfurt a. M., Hamburg, Mannheim, Siegen und Solingen. Dieses Wissen geht, wie die Aufzählung schon annehmen lässt, nicht auf eine systematische Forschung zurück. Es handelt sich dabei um Funde aus Kontexten anderer Fragestellungen. Es steht zu erwarten, dass eine gründliche Bearbeitung der Thematik eine Fülle weiterer Angaben erbringen wird.

Die disparaten Zufallsangaben weisen eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit auf: Sie belegen Kontakte zu und Mitgliedschaften in der KPD und in ihrem organisatorischen Umfeld in einem breiten Spektrum der Handlungsformen und der Rollen der Akteure – von Siegerländer Arbeitern mit Sinti-Herkunft,iii die 1933 und 1934 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ vor Gericht standen, über den Bremer Parteikassierer Anton Schmidtiv bis zum Stuttgarter Bezirksvorsitzenden Stefan Lovász der illegalen KPD, der 1938 wegen Landesverrats und Vorbereitung zum Hochverrat in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde.v

Diese Nähe von politisch motivierten Menschen aus der Minderheit zur KPD ist bei näherer Betrachtung nicht weiter erstaunlich, denn Sinti und andere Roma waren, soweit sie nicht länger ambulant ausgeübten Gewerben wie der reisenden Unterhaltungsmusik oder der Schaustellerei nachgingen – das galt für eine wachsende Anzahl von Familien spätestens seit den Jahren der Weimarer Republik – meist Arbeiter. Sie lebten in Arbeiterstadtteilen. Dort und nicht in den bürgerlichen Stadtteilen mit Mittelschichtbewohnern oder Villenbesitzern standen auch die Wohnwagen, wie sie von Roma, aber in gleicher Weise auch von anderen reisenden Händlern, Unterhaltungsgewerblern und Menschen, für die eine Miete einfach zu viel Geld war, bewohnt wurden.vi Der soziale Raum, in dem die Angehörigen der Minderheit aufwuchsen und lebten, war der Lebensraum der unteren Sozialschichten, das heißt der großen Bevölkerungsmehrheit.

In diesem proletarischen Milieu waren die Arbeiterparteien beheimatet. Von diesen musste namentlich die KPD aus Roma-Sicht die interessantere sein, da SPD-Regierungen und -Stadtverwaltungen in den Weimarer Jahren weitgehende gesetzgeberische und ordnungspolitische Restriktionen gegen die Minderheit verhängt hatten.vii Die KPD dagegen konnte darauf verweisen, dass sie die quer durch die Parteienlandschaft befürwortete Exklusionspolitik gegen „Zigeuner“ und andere vorgeblich „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ ablehnte und der Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten gegenüber „Zigeunern“ widersprach, da sie Freizügigkeit und Demokratie verletze. Daher sei sie als verfassungswidrig abzulehnen.viii Die KPD vertrat weniger eine „ethnisch-kulturelle“ als eine sozialpolitische, auf die Sicherung und Verbesserung der materiellen Existenzvoraussetzungen gerichtete Sichtweise auch, wenn es um „Zigeuner“ ging.

Mit der Machtübergabe an die NSDAP und ihre deutschnationalen Bündnispartner waren die Möglichkeiten, deren Plänen etwas entgegensetzen zu können, minimiert und für die Gegner der neuen Machthaber mit hohen Risiken verbunden. Nun spielten verdeckte, untergründige Resistenzformen eine wichtige Rolle. Nun ging es vor allem auch um individuelle und familiäre Selbstbehauptung und Selbstschutz. Ein Mittel dazu wurde die Flucht vor dem Zugriff des NS-Staats, der grundsätzlich jeden Menschen aus der Minderheit treffen konnte, denn sie waren von der scheinwissenschaftlichen Rasseforschung vollständig als schädlich und gefährlich ausgeschrieben. Es gab den Versuch, dem zu entgehen, zum einen in der Form des Untertauchens in Deutschland und zum anderen als Flucht ins Ausland. Da es die Möglichkeit, sichere Fernziele anzusteuern, anders als bei der jüdischen Minderheit nicht gab, führte Flucht in die Nachbarstaaten, oft in die im Westen, also in die Niederlande, nach Belgien oder ins französische Elsass. Hier waren die Flüchtigen durch die Besetzungen jedoch weiterhin der Verfolgung durch den NS-Staat und dessen Helfer ausgesetzt.

Davon, was Widerspruch und Widerstand gegen den Versuch der Vernichtung bei den gegebenen Möglichkeiten für den einzelnen heißen konnte, soll im Folgenden an einigen biografischen Beispielen eine Vorstellung vermittelt werden. Dabei soll die Region im Mittelpunkt stehen, NRW also und dort das Rhein-Ruhr-Gebiet.

Solingen

Die Sintizza Elfriede („Frieda“) Steinbach, 1915 in eine Solinger Musikerfamilie geboren, gehörte als junge Frau zur lokalen Theater- und Musikgruppe „Rote Schmiede“, die mit Stücken, Gedichtvorträgen, Chorgesang und sportlichen Schauvorstellungen politische Inhalte vermittelte.ix Welche Rolle sie auf der Bühne hatte, ist nicht bekannt. „Agitation und Propaganda“ dieser Gruppe richteten sich, wie es bei den Arbeiterparteien selbstverständlich war, auch gegen die Nazi-Bewegung. Die Mitglieder der Roten Schmiede kamen aus der KPD und aus der KPO,x die eigentlich verfeindet, hier einmal gemeinsam anzutreffen waren. Gewiss aber gehörten auch Nichtmitglieder dieser beiden Parteien zur Gruppe. Wo und wie Elfriede Steinbach einzuordnen war, ist unbekannt. Entscheidend war für die nach der Machtübergabe auftretenden Verfolger, dass sie auf einer gegnerischen linken Bühne gestanden hatte. Schon bald wurde sie festgenommen. Zwei Zeugen bekundeten später im Entschädigungsverfahren, dass sie „deshalb so frühzeitig verhaftet wurde“, weil „alle Mitglieder der ‚Roten Schmiede’ bei der Polizei bekannt waren.“ Daraus geht hervor, dass ihre Zugehörigkeit zur Minderheit noch von nachrangiger Bedeutung war. Elfriede Steinbach wurde in den Polizeigefängnissen Solingen und Wuppertal inhaftiert. Was folgte, ist nicht bekannt, schon aber, dass sie irgendwann im KZ Ravensbrück festgehalten wurde. Es ist davon auszugehen, dass mindestens die Inhaftierung dort auf rassistische Zuschreibungen zurückging. Ganz zurecht sah Elfriede Steinbach sich als vor allem „rasseverfolgt“, wie sie nach der Befreiung erklärte. So belegen es auch die Biografien von Familienangehörigen, die anders als sie z. T. nach Auschwitz deportiert wurden und nicht überlebten.xi

Als die Solinger Polizei in den 1950er Jahren Aussagen zur Verhaftung von Elfriede Steinbach machte, bestritt sie deren Zugehörigkeit zur „Roten Schmiede“ nicht. Sie leugnete aber, dass sie deshalb festgenommen worden sei. Sie entpolitisierte zum Schaden des Entschädigungsanspruchs den Sachverhalt und gab ihm ein rechtsförmiges Aussehen, indem sie ihn mit dem Vorwurf des Wahrsagens und des Diebstahls begründete.

Essen

Ein klassisches Arbeiterviertel in Essen war der Segeroth. Dort lebten neben Familien der Mehrheitsbevölkerung polnische, italienische, jüdische und Sinti-Familien. Zu diesen gehörten in den 1930er Jahren die Adams, Delis‘, Petermanns, Reinhardts, Schoppers, Trollmanns und Wintersteins. Einer aus diesen Familien war der ältere vormalige Pferdehändler und spätere Arbeiter Bernhard Trollmann, geboren 1867. Nach Erkenntnissen der Düsseldorfer Gestapo-Leitstelle war er Mitglied der KPD.xii 1935 wurde er angezeigt und auf Initiative des Ortsgruppenleiters der NSDAP festgenommen. Er hatte in einer Wirtschaft ein offenes Wort gesprochen und über hohe Preise des Brots und des Biers geklagt. Dabei hatte er auch gesagt, er gebe für das heutige Deutschland „keine zwei Pfennige“. Man nahm ihn fest und ließ ihn nach einer Verwarnung wieder gehen. Bernhard Trollmann nahm kein Blatt vor den Mund, womit er das denunzierende Gerücht beförderte, er habe unter seinem Wohnwagen Waffen vergraben. Dem folgte eine gründliche polizeiliche Untersuchung, die den Verdacht nicht bestätigte. Im Verhör bestritt Trollmann auch, je einer kommunistischen Organisation angehört zu haben. Die weitere Biografie von Bernhard Trollmann ist bislang ungeklärt. Angehörige der Essener Trollmanns wurden deportiert und fielen der Vernichtung zum Opfer.

Ein häufig eingesetztes Mittel zur Disziplinierung unbotmäßiger Arbeitskräfte war der Straftatbestand des „Arbeitsvertragsbruchs“, im Alltagsjargon auch als „Arbeitsuntreue“ oder „Bummelei“ bezeichnet, mit dem Verweigerungsformen im „Arbeitseinsatz“ geahndet werden konnten. In Essen waren dem 1943 gemeinsam die Sinti Peter Delis und Bonifatius Dietrich aus dem Segeroth ausgesetzt. Nach einer Anzeige des Reichstreuhänders der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Westfalen-Niederrhein an die Gestapo Außenstelle Essen wurden sie nach einer Haft im Arbeitserziehungslager Recklinghausen am 10. März 1943 nach Auschwitz deportiert,xiii von wo Bonifatius Dietrich in das KZ Dora Mittelbau kam. 1939 hatte Peter Delis noch mit der „deutsch-ungarischen Attraktionskapelle Romano“ im bekannten Café Corso auftreten können und die Essener National-Zeitung der NSDAP hatte Anzeigen für die „Zigeuner-Kapelle“ geschaltet.

Auch in Essen gab es jugendliche „Edelweißpiraten“. Denen schlossen sich Jungen aus einer Segerother Sinti-Familie an. Das zog nach sich, dass diese Schaustellerfamilie ein von der Polizei gesuchtes Mitglied der Gruppe verbarg, was auf dem Wohnwagenplatz alle wussten und niemand verriet, auch das kein Zeichen politischer Indifferenz.xiv

Duisburg: Selma Atsch und Familie

Beispiele immer wieder aufflammender Widerständigkeit noch unter widrigsten Bedingungen bietet die Geschichte der Duisburger Familie Atsch und in dieser Familie ganz besonders Selma Atsch, geboren 1905, einer Artistin aus dem Kontext damals weithin bekannter Zirkusfamilien. Ihre Mutter kam aus der jüdischen Schausteller- und Zirkusfamilie Schickler und hatte den Zirkusinhaber Martin Atsch geheiratet. Ihre Tante hatte in die Zirkus- und Artistenfamilie Nock eingeheiratet. Zur Familie Atsch gehörten Pflegekinder aus der Sinti- und Artisten-Familie Winterstein. Das Zirkusmilieu konstituierte sich aus Menschen unterschiedlicher Herkunft, es war „multikulturell“ und grenzte sich zur Bevölkerungsmehrheit ab. Hier kamen Herkunftsbiografien aus der deutschen Mehrheit mit solchen aus vielen anderen Staaten und aus der jüdischen, der Sinti- und der jenischen Minderheit zusammen. Gemeinsamkeit basierte hier auf der oft seit Generationen ausgeübten gemeinsamen Erwerbsweise. Die „Rassehygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle (RHF)“ in Berlin-Dahlem, die die Roma-Minderheit und als benachbart betrachtete Bevölkerungsgruppen erfasste und die die Menschen nach Rassekriterien einstufte und verzeichnete, hatte Dossiers auch zu den deutschen Zirkusfamilien angelegt und sie unter Zigeunerverdacht gestellt.xv

Die Familie der Tante von Selma Atsch stand mit ihrer Freiluft-„Kunstarena“ bis Anfang der 1940er Jahre im Düsseldorfer Arbeiterstadtteil Bilk auf dem Schützenplatz. Inwieweit es noch Auftrittsmöglichkeiten gab, ist unbekannt. Die Familie Atsch in Duisburg hatte ihren Standort im Arbeiterortsteil Hamborn. Sie verfügte noch über zwei Wohnwagen, einen Packwagen, eine Orgel, eine Arena, Auftrittskostüme und einen Käfig für einen Bär, der inzwischen erschossen worden war.

Im Spätsommer 1939 hatte es noch eine Vorstellungsreise mit der Zirkusarena gegeben. In Oberhausen-Osterfeld hatte man abends anschließend in einer Gaststätte zusammengesessen und auch getanzt. Das hatte ein städtischer Steuerbeamter, der SS-Scharführer war, zu verhindern versucht. Seinen Protest ignorierten die Atschs, Pasqualis und Wintersteins. Es kam zu einer Schlägerei zwischen Ortsansässigen und Artisten, die zu Haftstrafen gegen mehrere Zirkusleute führte, so auch für den Vetter Rudolf Atsch von Selma.xvi Daran schloss sich im März 1940 „Vorbeugehaft“ für die Inhaftierten im KZ Sachsenhausen an. Die Gruppe wurde sofort nach Eintreffen der Strafkompanie zugewiesen und in die „Isolierbaracken“ verbracht. Johannes Pasquali, Franz Winterstein und Rudolf Atsch wurden als Haupttäter bestimmt und einige Tage später im Fußbadebecken eines Waschraums durch Untertauchen ertränkt. Rudolf Atsch wehrte sich noch in dieser Lage gegen seine Mörder und schrie dabei um Hilfe, so dass ein Häftling dazukam, der 1956 als Zeuge den Vorgang in einem Verfahren gegen die Täter schildern konnte.xvii

Nach ihrer „Festschreibung“ im Herbst 1939 durfte die Familie Duisburg nicht mehr verlassen. Im Winter 1939 hausierte Selma mit Kurzwaren und bettelte in den Häusern um Lebensmittel. Obwohl ihr bewusst gewesen sein wird, dass gerade sie ein Risiko einging, wenn sie sich politisch äußerte, hielt sie nicht den Mund. Sie wurde nach einem Hausiergang wegen abschätziger Äußerungen über Hitler von einer Hausfrau denunziert und daraufhin behördlich verwarnt. In der Vernehmung ging sie bei der Beschreibung ihrer Herkunft unerschrocken auf ihren jüdischen Großvater ein.

Selmas Stiefbruder Artur Winterstein, Artist, kam 1941 ins KZ Dachau. Ihr Bruder Eduard, Artist, kam 1942 ins KZ Sachsenhausen. Beide starben im Jahr nach ihrer Inhaftierung, bei beiden lautete die Haftbegründung „asoziales Verhalten“.

1942 ging Selma Atsch eine Partnerschaft mit dem Sinto Wilhelm Mettbach ein, der in Düsseldorf in dem Zwangslager für Roma am Höherweg lebte. Mettbach war ein vormaliges Mitglied der KPD. Ihre zahlreiche Familie mit der Mutter – der Vater war bereits 1939 in Hamborn verstorben –, den Geschwistern, Nichten und Neffen wurde im März 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Reisewagen, Gerätschaften, Käfig und Requisiten wurden mit der Deportation enteignet und als Reichseigentum versteigert oder verkauft.

Selma Atsch tauchte ab. Von der Kripo wurde sie zum Zweck der Auschwitz-Deportation von der Kripo zur Fahndung ausgeschrieben.xviii Eine Düsseldorfer Verwandte aus der Familie Nock, bei der sich Selma Atsch und Wilhelm Mettbach gelegentlich aufhielten, beschrieb sie als immer mit einem Kleiderkoffer unterwegs und stets ordentlich gekleidet. Damit widersprach sie der Rolle der „Asozialen“, die ihr zugewiesen war, und „tarnte“ sich, indem sie das Klischee unterlief. Selma Atsch verließ das Rhein-Ruhr-Gebiet. Es gelang ihr, im Zirkusmilieu Unterstützung zu finden. Im September 1943 wurde sie entdeckt und in Dresden im Zirkus Kaiser festgenommen. Im Januar 1944 folgte ihr Transport nach Birkenau.

Niemand von den 13 oder 14 im März 1943 deportierten Atschs überlebte.xix Allein Selma Atsch überstand das Lager. Sie und Wilhelm Mettbach heirateten nach der Befreiung.xx

Die Deportation der Großfamilie in das „Zigeunerfamilienlager“ in Birkenau hatte den Ausführungsbestimmungen des „Auschwitz-Erlasses“ gegen „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ widersprochen, denn die RHF hatte „trotz eingehender Nachforschungen“ keinen Nachweis für eine „zigeunerische“ Herkunft finden können, und die Kripo ging daher davon aus, dass die Atschs nicht als „zigeunerische Personen“, wie der Erlass es verlangte, sondern als „Nichtzigeuner“ begutachtet seien. Für die RHF und damit auch für die Kripo war das Fantasma der „Erbmasse“ und der „Blutsanteile“ die Grundlage jeder Einstufung. Ersatzweise war hier an die Stelle der fehlenden „Rassegutachten“ am Ende die Zuschreibung eines „asozialen Verhaltens“ „nach Zigeunerart“ getreten,xxi so dass auf diesem Weg die Duisburger Lokalbehörden die als „Zigeuner“ Eingeschätzten möglichst vollzählig loswerden konnten. Tatsächlich finden sich in den Archivalien zwar die Bestätigungen für eine jüdische Herkunft, aber keinerlei Hinweise auf eine genealogisch-biologische Möglichkeit der Zuordnung zur Sinti-Minderheit, wie die RHF sie ohne Erfolg versuchte. Macht man sich nicht die in die rassistische Irre führende völkisch-biologische Definition zu eigen und betrachtet „Ethnizität“ nicht als geschlossene Veranstaltung, erweist sich, dass Selma Atsch einen Wechsel der Hauptbezugsgruppe vorgenommen hatte, sie war in die Minderheit gewechselt.

Duisburg: Christine Lehmannxxii

Die 1920 in Duisburg geborene Christine Lehmann war eine von drei Töchtern und drei Söhnen des katholischen Instrumentenhändlers und -reparateurs, Musikers, Schaustellers und Korbmachers August Lehmann und seiner Ehefrau Margarete geborene Kreutz. Der Vater war im Ersten Weltkrieg zum Landsturm eingezogen worden, die Familie seit der Kaiserzeit in Duisburg zu Hause. Vier Kinder waren dort geboren, eins im benachbarten Moers. Die Familie lebte im Arbeiterstadtteil Kaßlerfeld. Christine Lehmann arbeitete zunächst als Haushälterin. Seit 1938 war sie mit dem „deutschblütigen“ Duisburger Maschinenschlosser Karl Hessel zusammen. Hessel hatte sich als Kraftfahrer selbständig gemacht und unterhielt einen Transportdienst („Blaue Eilboten“). Die beiden wollten heiraten. Das wurde ihnen verboten, denn die RHF hatte bei Christine Lehmann „etwa gleiche zigeunerische und nichtzigeunerische Blutsanteile“ diagnostiziert, und das lokale Gesundheitsamt war zu dem Schluss gekommen, es sei „neben den westisch-ostischen Rassemerkmalen der zigeunerische Einschlag“ bei der Braut sehr deutlich. Die wissenschaftlich getönte „Rassendiagnose“ beruhte auf der Betrachtung und Auswertung von Fotografien, wobei auch bei Karl Hessel „zigeunerische“ Merkmale gesehen wurden. Das Paar hatte inzwischen einen Sohn Egon Karl.

Christine Lehmanns Bruder Franz, früh ein vom Vater ausgebildeter Musiker, nach der Volksschule 1936 wie sein Bruder Johann bei der Beton- und Monierbau AG Essen tätig, wechselte 1940 zum Postamt Duisburg. Wenig später wurde die Familie Opfer der „Mai-Deportation“ 1940 von grenznah im deutschen Nordwesten, im Rheinland und im Südwesten lebenden Angehörigen der Minderheit ins Generalgouvernement. Auch ein Enkelkind war in die „Mai-Deportation“ einbezogen gewesen, nicht jedoch Christine. Das erklärte sich, wie es hieß, mit dem eheähnlichen Verhältnis mit einem Kind, in dem sie lebte. Das versuchten die städtische Fürsorge und die Kripo zu beenden. Im Januar 1942 wurden Christine Lehmann und Karl Hessel vom „Zigeuner“-Dezernat der Kripo vorgeladen. Sie hatten eine Erklärung zu unterschreiben, dass „das eheähnliche Verhältnis nicht mehr geduldet“ und dessen Fortsetzung bestraft werde, bei Christine mit dem KZ. Der letzte Satz von ihr im Vernehmungsprotokoll lautete: „Ich habe den Sinn dieser Verhandlung verstanden und werde mich entsprechend zu verhalten wissen.“ Dazu hatte sie jedoch andere Vorstellungen, als ihre Verfolger sie ihr aufzuzwingen versuchten.

1942 war ein zweites Kind unterwegs. Christine Lehmann verheimlichte die Schwangerschaft, brachte ihren zweiten Sohn Robert Georg bei der Schwester Karl Hessels in Luxemburg zur Welt und konnte ihn zu seiner Sicherheit dort belassen. Christine Lehmann tauchte nun unter. Die Kripo ging davon aus, sie habe Duisburg verlassen und damit war für sie „die Unterbringung in ein[em] Konzentrationslager gegeben“. Die Vorbeugehaft sei anzuordnen. „Nur so ist es möglich …, die Reinerhaltung des deutschen Blutes zu gewährleisten.“ Das hieß Auschwitz-Birkenau. Im Deutschen Fahndungsbuch wurde die bis zu ihrem Verstoß gegen die nazistischen Rassevorschriften polizeilich nie Aufgefallene unter den „Mitteilungen über Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ zur Festnahme ausgeschrieben. Sie wurde entdeckt – wo und wie ist nicht bekannt –, im Juni 1943 von der Kripo Duisburg „als Gemeinschaftsfremde in die polizeiliche Vorbeugungshaft genommen“ und im Monat darauf in einem Sammeltransport nach Auschwitz deportiert. Ihre Kinder wurden den Pflegeltern fortgenommen und im März 1944 begleitet vom Leiter des „Zigeuner-Dezernats“ der Duisburger Kripo und einer Helferin ebenfalls nach Auschwitz gebracht. Dort starben die Mutter und die Kinder.

Die Familie kehrte 1944 mit anderen Sinti beim Nahen der Roten Armee und nach der Flucht der Wachmannschaft ihres Lagers aus Polen nach Duisburg zurück. Eine Deportation nach Auschwitz kam nun für die Duisburger Kripo nicht mehr infrage, denn wenige Tage vor der Ankunft der Sinti-Gruppe war das „Zigeunerfamilienlager“ in der Nacht vom 2. auf den 3. August mit einer Vergasung und Verbrennung der meisten der bis dahin überlebenden Häftlinge aufgelöst worden. Das war das eine, und das andere, dass keine Zwangsarbeiter aus dem Osten mehr beschafft werden konnten und nun die verbliebene Bevölkerung nach noch verwertbarer Arbeitskraft abgesucht wurde. Die Lehmanns wurden in Absprache der Kripo mit dem Arbeitsamt auf der Stufe der „Ostarbeiter“ ins Mannesmann-Röhrenwerk in Großenbaum eingewiesen und waren auf dem Betriebsgelände in einem Lager für diese Zwangsarbeitskräfte untergebracht.

Niederrhein

Der 1897 in Altenhilgen bei Burscheid geborene Textilkaufmann Albert Steinbach war zugleich Kinounternehmer und „finanziell sehr gut gestellt und als solcher bekannt“.xxiii 1941 hatte der Druck rassepolitischer Instanzen, mutmaßlich der RHF, insoweit zugenommen, als er fürchtete, enteignet zu werden, nachdem er zur Fortführung seines Kinos eine „arische“ Genealogie nachzuweisen hatte. Albert Steinbach besprach sich mit einem Verwandten, der meinte, „väterlicherseits ist doch alles in Ordnung“, und ihm die taktische Empfehlung gab: „Kannst Du es denn nicht so machen, dass Du vielleicht einen arischen Teilhaber aufnimmst, der Mitglied der Filmkammer ist?“ Dafür war es inzwischen zu spät.

Wenige Monate später wurde Albert Steinbach in Wesel als „Zigeunermischling“ festgenommen und in Köln inhaftiert, von dort kam er ins Polizeigefängnis nach Essen, wo ihm jedoch die Flucht gelang. Er tauchte zusammen mit seiner Frau Katharina unter und schaffte es, bis zur Befreiung 1945 unentdeckt zu bleiben. Damit einher ging eine Odyssee innerhalb Deutschlands. Die beiden legten sich eine falsche Identität mit dem Namen „Müller“ zu und machten sich mit einem Wohnwagen und später mit einer von einem Pferd gezogenen Kutsche auf den Weg. Nach welchen Gesichtspunkten die Ziele ausgesucht wurden, ist nicht erkennbar. Als Aufenthaltsorte zeigen sich in etwa chronologisch Aachen, Köln, Krefeld, Erkelenz, Passau, Heppingen (Kr. Ahrweiler?), über einen längeren Zeitraum dann Mitteldeutschland und Oberschlesien, ferner Rottbitze im Siebengebirge, Birnbach (Kr. Altenkirchen) und Donsbach (Dillkreis). Der vormalige Kinobesitzer und Kaufmann fiel nun zurück auf eine Existenz als Hausierhändler mit Textilien, konnte aber diese Rolle erfolgreich durchhalten.

Aus eidesstattlichen Erklärungen im Entschädigungsverfahren ergeben sich Einblicke in die Lebenssituation der beiden Flüchtlinge. Im schlesischen Königshütte scheuten die Steinbachs sich nicht, einen westdeutschen Bekannten, Nicht-Sinto, zu besuchen, der dort im Lazarett lag. In Rottbitze hatte der Wohnwagen 1943/44 auf einem Privatgrundstück gestanden. Aus einigen Tagen Aufenthalt, wie zunächst erbeten, waren Monate geworden. Es hatte zu keinem Zeitpunkt Nachfragen der Gastgeber gegeben, ob die Wohnwagenbewohner nicht vielleicht als „Zigeuner“ verfolgt würden. Zum März 1945, Endphase des NS-Systems, hieß es, man habe bei Donsbach die zwei mit ihrer Kutsche auf der Landstraße angetroffen. Der Wagen sei wegen Deckung gegen Fliegerangriffe im Straßengraben platziert gewesen. Sie hätten gefragt, ob eine Übernachtung im Dorf möglich sei. Daraus seien vier Wochen geworden. Über sich und ihre Herkunft hätten sie geschwiegen. Immer noch „machten (sie) den Eindruck von wohlhabenden Leuten.“ Sie seien ohne Anmeldung und damit auch ohne Lebensmittelkarten gewesen, und ihre Anwesenheit habe man geheimgehalten. Wiewohl derselbe Sprecher erklärte, Albert Steinbach habe sich „auch offen im Dorf“ bewegt. Aus dem jahrelangen Leben in der Illegalität ergibt sich, dass es immer wieder gelang, Helfer zu finden.

Das war die eine positive Erfahrung mit Menschen aus der Mehrheitsbevölkerung, eine andere machte er nach seiner Rückkehr. Die bei ihm vormals eingelagerten Warenbestände waren erst geplündert und dann die „letzten Bestände“ „von Seiten der Nazis“ verkauft worden.

Zirkusmilieu

Am Beispiel von Selma Atsch war bereits erkennbar, dass das Zirkus- und Schaustellermilieu, mit dem viele Sinti vertraut waren, Möglichkeiten des Untertauchens bot. Dazu nur zwei weitere Beispiele aus der hier betrachteten Region:

Der in Düsseldorf lebende Wilhelm gen. Adam Lagrin, 1906 geboren, war Hochseilartist, Sohn von Andreas Lagrin, Inhaber des Zeltzirkus „Alberto“.xxiv Mit Kriegsbeginn wurde Wilhelm Lagrin zur Wehrmacht eingezogen, dann als „Zigeuner“ wieder entlassen. Die Familie wurde in Offenbach festgesetzt und Wilhelm Lagrin zum Arbeitseinsatz in einem Produktionsbetrieb verpflichtet. Zwei Brüder wurden in das KZ Buchenwald deportiert, ein dritter Bruder, der vom Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) zur Fahndung ausgeschriebene Dominik, tauchte unter. Es gelang ihm, als Kunstreiter von einem Zirkus Belli engagiert zu werden und sich so verborgen zu halten. Andreas Lagrin wurde mit weiteren Familienangehörigen in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert. Er starb wenige Monate nach der Ankunft. Weitere Verwandte überlebten das Lager nicht. Wilhelm Lagrin musste sich, um der Deportation zu entgehen, sterilisieren lassen. Nicht sicher, ob weitere Verfolgung auf ihn wartete, flüchtete auch er in den Schutz des Zirkus Belli und überstand so die NS-Jahre.

Der von Wuppertal nach Lothringen geflüchtete und von der Polizei gesuchte Sinto Paul Weiss, Musiker, bekam mit Hilfe des Polizeibeamten Paul Kreber, eines seltenen Ausnahmefalls innerhalb der zeitgenössischen Polizei, Verbindung zu einem dort gastierenden Zirkus. Er durfte die Leitung der Zirkuskapelle übernehmen und auch für seinen Sohn fand sich dort eine Arbeitsmöglichkeit. So war man eine Weile in Lothringen, dem Elsass und Luxemburg unterwegs. Als das nicht mehr ging, wandten die beiden sich zurück nach Deutschland. Sie begleiteten einen Artisten, der nicht der Minderheit angehörte. Er wusste, mit wem er reiste. In Deutschland wurde es ihm zu gefährlich. Da trennten sie sich.

Schlussbemerkungen

Es war ein politisches Engagement, das deutsche Sinti und andere Angehörige der deutschen Roma-Minderheit vor 1933 veranlasste hatte, gegen die NS-Bewegung aufzutreten. Sie handelten vor allem aus dem Selbstverständnis ihrer sozialen Zugehörigkeit in den Arbeiterquartieren, in denen sie lebten. In diesem Milieu der Arbeiterparteien war der Widerspruch gegen die NS-Bewegung eine Selbstverständlichkeit. Welche Bedeutung zusätzlich die minderheitliche Zugehörigkeit gehabt haben könnte, ist nicht erkennbar. Ob und inwieweit diese NS-Gegner in ihrer Haltung für ihre „ethnische“ Herkunftsgruppe repräsentativ gewesen sind, dazu lässt sich keine Aussage treffen. In ihrer Bereitschaft, sie praktisch werden zu lassen, waren sie es sicher nicht, aber das gilt in gleicher Weise auch für andere Bevölkerungsgruppen.

Immer wieder kann man in den einschlägigen Archivalien Belege für eine Fortführung von Haltung und Praxis nach 1933 finden, nun unter hohem Risiko und unter der neuen Voraussetzung, dass die Minderheit insgesamt aus rassistischen Motiven einer sich radikalisierenden Verfolgung ausgesetzt war. Jeder einzelne, ob politisch motiviert oder nicht, war nun zunehmend gefährdet.

Die angeführten Fälle stehen für eine Vielfalt von Formen des Widerspruchs und des Widerstands. Es waren oft kleine Stiche, die die Akteure der Ordnung versetzten, mit der sie nicht übereinstimmen konnten und wollten. Ein tägliches Risiko war die von einer nicht geringen Zahl von Roma unternommene Flucht, zweifelsohne ein Handeln gegen die rassistische Politik des NS-Systems. „Untertauchen“ bedeutete, im Land selbst sich der staatlich organisierten Verfolgung entziehen zu wollen. Das gelang oft nur für eine begrenzte Zeit. Immer aber war es erforderlich, auf dem Weg und an den Orten eines Verstecks in einer „deutschen Volksgemeinschaft“ Fluchthelfer zu finden. Das war schwierig, denn in dieser Volksgemeinschaft gab es mehr Sympathien für den „Führer“ als für „Zigeuner“. Neben der Flucht im feindlichen Inland steht die Flucht ins benachbarte Ausland. So machten es etwa die Mülheimer Verwandten von Selma Atsch, die Zirkusfamilie Agtsch,xxv die nach Österreich gelangte und dort die NS-Jahre ohne Entdeckung durch die Rasseforscher und die Kripo überstand. Zwischen diesen beiden Varianten lagen die Anstrengungen von 1940 ins Generalgouvernement Deportierten, die sich dort aus den Lagern und einer unerträglichen Zwangsarbeit flüchteten. Das bedeutete, das Lager mit der Vogelfreiheit zu tauschen und sich unter schwierigsten Bedingungen durchschlagen zu müssen. Viele von ihnen überlebten das nicht.

Sich zu widersetzen war häufig einfach gleichbedeutend mit dem Versuch, sich für die Verfolger unsichtbar zu machen, um eine Überlebenschance zu haben. Passiv und unpolitisch war das nicht, sondern eine aktive praktische Stellungnahme gegen die mörderische Politik des NS-Systems.  

In zugespitzten Situationen konnte es darüber hinausgehen, wenn im öffentlichen Raum, die Naziherrschaft und ihre Repräsentanten als das bezeichnet wurden, was sie waren. Die Beispiele bringen zum Ausdruck, dass man die Herrenmenschenattitüden, mit denen Sprecher gegenüber den Angehörigen der Minderheit auftraten, nicht anerkannte und zurückwies. Dabei stand im Vordergrund, Angriffe auf die menschliche Würde zurückzuweisen, die den Angehörigen der Minderheit grundsätzlich abgesprochen wurde. Das erforderte Mut. Die Geschichte des Widerstands auch von Roma im Nationalsozialismus ist nicht zuletzt eine Geschichte persönlichen Muts vieler einzelner Menschen. Damit das nicht vergessen wird, ist es aufzuarbeiten.

 

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i  Roma bezeichnet mit einem Romanes-Wort nach internationaler Konvention alle Angehörigen der zahlreichen romanessprachigen Gruppen, also die Gesamtminderheit. Das Romanes-Wort Sinti, das im Text ebenfalls auftritt, bezeichnet die Angehörigen einer zumeist in Mittel- und Westeuropa seit langem beheimateten Teilgruppe der Roma. Die auf den deutschen Sprachraum beschränkte in unterschiedlicher Kombination auftretende Verknüpfung von „Roma“ mit „Sinti“ ist kategorial inkonsistent, weil sie Kategorien unterschiedlicher Hierarchieebenen zusammenschließt, und wird daher hier nicht verwendet. Als Quellen- und Fremdbegriff in An- und Abführungszeichen gesetzt kommt „Zigeuner“ vor. Er kommt ohne diese Zeichen in Zusammensetzungen vor: Ein „Zigeunerverdacht“ ist ein Verdacht im Sinne des Zigeunerfantasmas. Im Gegensatz zu diesem ist er aber sehr real. Es ist auch zu sehen, dass strikte Abgrenzungen der Bevölkerungsgruppen gegeneinander, wie sie mit der Verwendung ethnologischer Gruppenbezeichnungen unvermeidlich einhergehen, der Realität der Übergänge und der Vielfalt in familiären Biografien und Herkunftsgeschichten nicht gerecht werden können, sondern sie zugunsten einer fiktiven biologistischen Homogenität verschwinden lassen.

ii  Vorhandenes wird hier zusammengefasst: Karola Fings, Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016, S. 87-92.

iii  VVN-BdA Siegerland-Wittgenstein (Hrsg.), Widerspruch und Widerstand. Opposition gegen den Nationalsozialismus in den Altkreisen Siegen und Wittgenstein“ Siegen o. J. (2017), siehe: http://widerspruchundwiderstandimnsinsiwi.blogsport.de/verzeichnis/biogr....

iv  „Erinnern für die Zukunft e.V.“ (Hrsg.), Spurensuche Bremen 1933-1945, Bremen o. J., siehe: https://www.spurensuche-bremen.de/spur/ein-familiengrab-gibt-auskunft-ue....

v  Landeszentrale für pol Bildung (Hrsg.); Formen des Widerstandes im Südwesten 1933-1945, dort S. 36-38, 51.

vi  In den Niederlanden hat sich dafür seit etwa dem Ende des 19. Jahrhunderts die nichtethnische Gruppenbezeichnung woonwagenbewoners durchgesetzt.

vii  Siehe etwa den Runderlass des preußischen Innenministers zur Einführung obligatorischer Fingerabdrücke und erkennungsdienstlicher Fotos bei „allen nichtseßhaften Zigeunern und nach Zigeunerart umherziehenden Personen“ von 1927, das Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens von 1929 des Volksstaats Hessen oder die Etablierung eines „Konzentrationslagers“ für „Zigeuner“ durch den Frankfurter Magistrat am Rand der Stadt; siehe: Ulrich F. Opfermann, Weimar: „Die Rassenkunde gibt Aufschluß“, in: Oliver von Mengersen (Hrsg.), Sinti und Roma. Eine deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation (Schriftenreihen der Bundeszentrale für politische Bildung und der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit), Bonn/München 2015, S. 71-85.

viii  „Zigeuner ante portas“, in: Arbeiter-Zeitung [der KPD Aachen], 6.11.1928; Rainer Hehemann, Die „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ im wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik, 1871-1933, Frankfurt am Main 1987, S. 372f.

ix  Die nachfolgenden Angaben siehe: Stadtarchiv Solingen, SG, Nr. 15.219; LA NRW, Abt. Rheinland, Gerichte Rep. 196, Nr. 3.663; ebenda, Nr. 4.018; Willi Dickhut, So war’s damals. Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948, Stuttgart 1979, S. 148f.; Gegen den Strom. Organ der KPD-Opposition. 1928 bis 1935. Vollständiger Nachdruck in 3 Bd., Edition SOAK, Bd. 2 (1930/31), Hamburg 1985, S. 319.

x  Die Kommunistische Partei – Opposition war eine „rechte“ Abspaltung von der KPD.

xi  Die Angaben mussten hier und an anderen Stellen fragmentarisch bleiben, weil dem Verfasser nur der Zugang zu seinen Auszügen aus Archivalien zur Verfügung stand, nicht aber zu den Archivalien selbst, da die Archive, also insbesondere das Landesarchiv in Duisburg, aufgrund der „Corona-Krise“ nicht zugänglich war.

xii  Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, RW 58, Nr. 18.955.

xiii  Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, RW 58, Nr. 38.223; Stadtarchiv Düsseldorf, 0-1-32, Nr. 69.0014.

xiv  Alfons Kenkmann, „Fahrtenstenze“ und „Edelweißpiraten“ – Die Erfahrungswelt jugendlicher Segerother Arbeiter in der NS-Zeit, in: Frank Bajohr/Michael Gaigalat (Hrsg.), Essens wilder Norden. Segeroth – Ein Viertel zwischen Mythos und Stigma, Hamburg 1991, 2. Aufl., S. 28-34, hier: S. 30, 110.

xv  Zu Artisten- und Zirkusfamilien in den Beständen der RHF siehe: Bundesarchiv Berlin, R 165-213.

xvi  Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, BR 1.111, Nr. 30.

xvii  Schriftliche Mitteilung der Gedenkstätte Sachsenhausen an Ingrid Rehwinkel (Duisburg) und Verweise auf die Aussage des Sachsenhausen-Häftlings Paul Bonnemann im Verfahren gegen die SS-Angehörigen Wilhelm Sorge und Gustav Schubert vor dem Landgericht Bonn 1956 sowie auf die kommentierte Zugangsliste im Staatlichen Militärarchiv der Russischen Föderation in Moskau.

xviii  Reichskriminalpolizeiamt (Hrsg.), Deutsches Fahndungsbuch, 6 (1943), S. 17.

xix  Die Angaben gehen zwischen dem „Hauptbuch des „Zigeunerlagers“/Gedenkbuch und der Polizeiakte – Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, BR 1.111, Nr. 32, Selma Atsch – auseinander. Alle Angaben in diesem Abschnitt: Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, RW 58, Nr. 68.400, Selma Atsch; ebenda, Gerichte Rep. 196, Nr. 1.515, Selma Mettbach * Atsch; ebenda, BR 1.111, Nr. 31, Familiengruppe A(g)tsch, und 32, Selma Atsch.

xx  Alle Angaben in diesem Abschnitt: ebenda, RW 58, Nr. 68.400, Selma Atsch; ebenda, Gerichte Rep. 196, Nr. 1.515, Selma Mettbach * Atsch; ebenda, BR 1.111, Nr. 31, Familiengruppe A(g)tsch, und 32, Selma Atsch.

xxi  Ebenda, Abt. Rheinland, BR 1.111, Nr. 32, Selma Atsch.

xxii  Ebenda, Abt. Rheinland, BR 1.111, Nr. 43 und 44; ebenda, Nr. 1.542, Bl. 1.191-1.287, hier: 1.269f., Vermerk StA Wolfgang Kleinert, 20.4.1963; ebenda, Nr. 1.543, Bl. 1.359-1.391, hier: Bl. 1.371f., Anklageschrift gegen Hans Maly, 20.2.1964; Stadtarchiv Duisburg, 504, Nr. 1.007; ebenda, 506, Nr. 782, Nr. 783, Nr. 4.539, Nr. 4.540; Marc von Lüpke-Schwarz, „Zigeunerfrei!“ Die Duisburger Kriminalpolizei und die Verfolgung der Sinti und Roma 1939-1944, Saarbrücken 2008; Nico Brochhagen, „Fachwissen und Diensteifer“ bei der Bekämpfung des Zigeunerunwesens“. Kriminalpolizist Wilhelm Helten als Akteur der Verfolgung Duisburger Sinti während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Duisburger Forschungen. Schriftenreihe für Geschichte und Heimatkunde Duisburgs, 63 (2020) (in Vorb.).

xxiii  Diese und alle nachfolgenden Angaben: Stadtarchiv Mönchengladbach, Best.1 d 118, Nr. 1.361; es handelt sich um eine Irrläufer-Akte aus den heute nicht mehr existierenden Beständen von Entschädigungsakten, wie sie im Stadtarchiv Moers aufzufinden sein sollten, aber zu einem unbekannten Zeitpunkt offenkundig vernichtet wurden. Sie ist also auch als Beleg für die vormalige Existenz dieser Akten in Moers zu sehen.

xxiv  Die nachfolgenden zwei Fälle eines Untertauchens im Zirkusmilieu siehe: Ulrich F. Opfermann, „Fahrendes Volk“. Binnenmigration in und aus dem alemannischen Raum im 19. und 20. Jahrhundert, in: Juliane Geike/Andreas Haasis-Berner (Hrsg.), Menschen in Bewegung (Lebenswelten im ländlichen Raum. Historische Erkundungen in Mittel- und Südbaden, Bd. 4), Heidelberg u. a. 2019, S. 189-235, hier: S. 216.

xxv  Es treten zwei unterschiedliche Schreibweisen in einer Großfamilie auf: Der Duisburger Familienzweig schrieb sich ohne, der Mülheimer Zweig mit „g“.

 

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Zum Verfasser:

Ulrich Friedrich Opfermann, Historiker, Dr. phil., Forschungs- und Publikationstätigkeit zur Geschichte der mitteleuropäischen Roma, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dokumentationszentrums des Rom e. V., Köln, Referenten-, Ausstellungs- und Publikationstätigkeit für das Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma, zahlreiche Veröffentlichungen, jüngste Publikation (in Vorb.): Gutachten „Zum Umgang der deutschen Justiz mit an der Roma-Minderheit begangenen NS-Verbrechen nach 1945. Das Sammelverfahren zum „Zigeunerkomplex“ (1958-1970)“ für die Unabhängige Kommission Antiziganismus beim Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2020).

 

Zirkus Schickler in Crange, 1926
Selma Atsch, Erzwungenes erkennungsdienstliches Foto der Polizei Duisburg, 1943. Landesarchiv NRW – Abteilung Rheinland – BR 1111 Nr. 32
Christine Lehmann, um 1938
Christine Lehmann mit ihren beiden Kindern Egon Karl (links) und Robert Georg (rechts), 1942
Circus Alberto
Hochseilgruppe Lagrin Pirmasens 1948
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