Interkulturelle Arbeit im Ruhrgebiet. Kulturpolitische Handlungsempfehlungen
Interkulturelle Arbeit im Ruhrgebiet. Kulturpolitische Handlungsempfehlungen
Die kulturelle Vielfalt der Metropole Ruhr lebt von ihrer engagierten freien Szene. Kunst- und Kulturschaffende mit Migrationsgeschichte haben die Region wesentlich mitgeprägt. Gleichzeitig ist die Szene spartenübergreifend mit vielen Herausforderungen konfrontiert.
Seit 2016 treffen sich im Netzwerk Interkultur Ruhr regelmäßig interkulturelle Akteur*innen, Initiativen und Organisationen des Ruhrgebiets, um sich über Erfahrungen aus der täglichen Arbeit, über Anliegen, Bedarfe und Chancen auszutauschen. Ein größeres Forum für diese Themen bot 2018 die 7. KULTURKONFERENZ RUHR: Kulturorte für eine Metropole der Vielfalt?, deren Programm von Interkultur Ruhr ausgerichtet wurde. Kulturschaffende der freien Szene und Vertreter*innen von Institutionen sowie aus Kulturpolitik und Verwaltung waren eingeladen, über die Rolle der Kultur zur Entwicklung einer kooperativen Gesellschaft der Vielen zu diskutieren.
Das Netzwerk Interkultur Ruhr hat in der Folge Potentiale und Bedarfe interkultureller Arbeit im Ruhrgebiet ermittelt, dialogisch Ideen für eine substantielle Stärkung der interkulturellen Szene im Ruhrgebiet entwickelt und gebündelt. Die Autorinnen Fatima Çalışkan und Miriam Yosef haben Fokusgruppen aus freien Künstler*innen, Kulturschaffenden, Produzent*innen, Praktiker*innen etc. gebildet und Befragungen durchgeführt, deren Auswertung beim letzten Netzwerktreffen in Oberhausen diskutiert und ergänzt wurde. Das Ergebnis liegt jetzt ausgearbeitet in Form von Kulturpolitischen Handlungsempfehlungen vor.
Das Dokument steht > hier zum Download bereit.
Die Kulturpolitischen Handlungsempfehlungen umfassen wesentliche, in die Zukunft gerichtete Anliegen und Konzepte der interkulturellen Szene des Ruhrgebiets und darüber hinaus. Zusätzlich werden Querverweise zum Kulturfördergesetz NRW, dem Gesetz für Teilhabe und Integration des Landes NRW sowie zur Teilhabe- und Integrationsstrategie 2030 des MKFF hergestellt.
Eine Einordnung der umgebenden gesellschaftlichen Dimensionen trägt die Autorin und Publizistin Mithu Sanyal mit ihrem Text “Willkommen in der Neuen Deutschen Welt” bei, der sich als ein orientierendes Geleit zu genau diesen Entwicklungsvorschlägen versteht:
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Willkommen in der Neuen Deutschen Welt
Ein Geleit von Mithu Sanyal
In den 80er Jahren gab es keinen Rassismus. Wir lernten in der Schule, dass Menschenrassen ein faschistisches Konzept waren, und wenn es Rasse nicht gibt, folgt daraus nur logisch, dass es auch keinen Rassismus geben konnte. Entsprechend war es nicht möglich, darüber zu sprechen, ohne so zu wirken, als wolle man Menschen erneut aufgrund von äußerlichen Merkmalen wesenhaft unterscheiden. All das ändert sich gerade mit atemberaubender Geschwindigkeit. Deutschland entdeckt (Anti-)Rassismus und (Post-)Kolonialismus. Plötzlich sprechen wir über PoCs und über BiPoCs. Und das ist wichtig. Es ist aber auch gleichzeitig beängstigend. Wirkt es doch so, als gäbe es jetzt mehr Rassismus. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Wir sind an einem gesellschaftlichen Punkt, an dem wir uns dem endlich stellen können.
Nur wenn wir etwas benennen können, können wir es auch ändern. Mehr noch, brauchen wir Sprache, um über Sachverhalte überhaupt nachdenken zu können.(1) Rassismus hat nicht nur eine äußere Dimension, sondern auch viel mit Ich-Werdungs-Problemen zu tun. In Bezug auf den Kulturbereich heißt das, dass der Wunsch Schriftsteller*in zu werden für meine weißen Freunde so ähnlich war, wie im oberen Management arbeiten zu wollen, ehrgeizig aber ein Berufswunsch. Für mich war er wie der Wunsch, zum Mond zu fliegen, ein unerreichbarer Traum. Rassismus macht etwas mit unserer Phantasie, mit der Vorstellung davon, wo unser Platz in dieser Gesellschaft und wieviel Bewegungsspielraum dort für uns ist. Die Aussiebungsprozesse setzen viel früher an. Und sie sind unsichtbar.
Kulturförderungen, Residenzen und Stipendien bedenken das jedoch in der Regel nicht. Und sie tun das nicht, weil sie von rassistischen Menschen betrieben werden, im Sinne von Menschen, die andere Menschen vorsätzlich und bewusst auf Grund ihres Phänotyps diskriminieren wollen. Das ist die landläufige Definition von Rassismus und sie ist falsch. Missversteht sie doch den Kampf gegen Rassismus als Kampf gegen böse Menschen. Wenn jeder Rassismus ein bewusster, individueller und absichtlicher wäre, wäre alles super. Dann könnten Menschen nämlich in der Tat einfach damit aufhören. Dabei ist der meiste Rassismus unbewusst, weil er internalisiert ist. Nebenbei ist es unmöglich, keine rassistischen Stereotype verinnerlicht zu haben – egal auf welcher Seite der race divide wir stehen. Rassismus ist das Wasser, in dem wir schwimmen. Wir alle bekommen das so genannte rassistische Wissen(2) bereits mit der Muttermilch eingeflößt. Und das ist jetzt sexistisch, weil das natürlich nicht die Schuld der Mütter ist.
Das Gegenteil von rassistisch ist nicht nicht-rassistisch, sondern anti-rassistisch, erklärt der Historiker und Gründungsdirektor des Anti Racist Research and Policy Center der American University Ibram X. Kendi.(3) Denn wenn wir uns damit begnügen, Rassismus einfach nur abzulehnen, bleibt die Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit dieser Strukturen aus. Das können wir an den hilflosen Versuchen vieler Institutionen – von der Polizei, über die Medien bis zum Gesundheitssystem – sich zu diesem Thema zu positionieren, sehen, die häufig nach dem Motto verläuft: Wir finden Rassismus ganz schrecklich, deshalb kann es bei uns auch keinen Rassismus geben.
Anti-Rassismus dagegen geht von der Analyse aus, dass wir in einem Gesellschaftssystem aufgewachsen sind, das auf rassifizierten Hierarchien basiert – auf der Ausbeutung anderer Länder durch Kolonialismus, auf rassistischen Menschenbildern, die unsere Philosophie durchdringen und so weiter und so fort.(4) Deshalb wäre es höchst verwunderlich, wenn ein Gesellschaftszweig davon frei bliebe, als wäre er abgeschnitten vom Rest der Wissensproduktion.
Und das ist die gute Nachricht! Der Prozess, in den wir gerade eintreten, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und kein Zeichen davon, dass bei uns etwas nicht stimmt. Die vorliegenden Handlungsempfehlungen sind eine Orientierungshilfe im scheinbar unendlichen Meer der Anti-Rassismus-Ansprüche. Doch mehr noch sind sie eine Entlastung. Es geht nicht darum, sich anzustrengen, so nette Menschen wie möglich zu werden. Spoiler: Selbstverpflichtungen funktionieren nahezu nie, weil dabei jede*r das Rad selbst erfinden und es, um im Bild zu bleiben, durch eine Welt aus Quadern rollen muss. Selbstverpflichtungen sind im besten Fall Selbstüberforderungen – im schlechtesten Fall sind sie leere Worte. Was wir brauchen, ist eine Institutionalisierung von anti-rassistischem Wissen sowie einer anti-rassistischen Praxis, um einen wirklichen Wandel herbeizuführen.
Das entspricht übrigens auch den Forderungen des Europarats, der von Deutschland aktive Maßnahmen gegen Rassismus fordert, allem voran mehr „Aufklärungsarbeit in Institutionen“ und die Verankerung von Rassismuskritik in die „Bildungsgesetze und in die Lehrpläne“.(5)
Neben Aufklärung/Wissen geht es vor allem um Teilhabe und Repräsentation. Nun machen mehr BiPoCs noch nicht unbedingt anti-rassistische Kunst und Kultur. Was sie jedoch tun ist, ein Signal auszusenden. An andere BiPoCs und an die Institutionen. Wie häufig habe ich gehört: Ach, Frau Sanyal, Ihre Erfahrungen sind ja faszinierend, aber doch eher so Spartenthemen. Sprich: Nicht repräsentativ. Dabei sind sie genau das. Und das würden Menschen auch eher sehen, wenn wir angemessen repräsentiert wären, wenn wir als Teil dessen wahrgenommen würden, was „echte“ Kultur ist, was das „echte“ Leben ist, was „echte“ Deutsche sind.
Schließlich ist eine der zahlreichen Funktionen von Kultur, kollektive Erinnerungen aufzubewahren und zu gestalten: Wie funktioniert Erinnern in der Bundesrepublik? Wer ist Teil der Erinnerungskultur, und damit auch Teil des Bildes, das wir von uns in die Zukunft projizieren? Im Kern: Wer ist wir?
„Wir sind Viele“ ist kein Slogan, es ist die Beschreibung einer Lebensrealität, die wir produktiv machen können. Und das bezieht sich nicht nur auf die Sender*innen, sondern auch auf die Adressat*innen. Wenn wir bestimmte Positionen unterrepräsentieren, werden sich auch nur bestimmte Menschen von unseren kulturellen Produkten angesprochen fühlen. Wie kann die Kultur dann aber ihrem Anspruch als fünfte Kraft in einem demokratischen Staat nachkommen? Als Ort der Rede- und Imaginationsfreiheit? Aber auch als gesellschaftlicher Raum der Begegnung und Berührung? Kultur ist der Ort, an dem Empathie entsteht und geschult wird, ein Labor für die Auseinandersetzung mit dem Anderen, auch mit dem Anderen im Eigenen.
Das Besondere an Kultur ist, dass hier Utopien nicht nur gedacht, sondern experimentell bereits erlebbar gemacht werden können.
Die vorliegenden Handlungsempfehlungen sind aus einem kollektiven Prozess entstanden. Sie (und die Erfahrungen, die aus ihrer Umsetzung entstehen) werden das kulturelle Leben in Deutschland nachhaltig bereichern – für uns alle! Und sie werden nicht nur die Inhalte bereichern, sondern auch die Arbeitsprozesse. Diversität bedeutet, dass wir nicht in alten Strukturen festgefahren bleiben müssen. Anti-Rassismus bedeutet ein Mehr an Menschlichkeit in Kunst und Kultur und damit in dem, wie unsere Gesellschaft sich selbst erklärt.
Zögern Sie nicht, nachzufragen und diese Expertise zu nutzen. Es geht nicht darum, alles richtig zu machen, sondern voneinander und von unseren Fehlern, aber vor allem auch von best practice Modellen zu lernen.
Und jetzt wird’s konkret. Viel Spaß beim Lesen!
>> download: Kulturpolitische Handlungsempfehlungen zur interkulturellen Arbeit im Ruhrgebiet
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(1) Vergl. Kübra Gümüsay: Sprache und Sein. Hanser: 2020
(2) Vergl. Mark Terkessidis: Die Banalität des Rassismus. Transkript Verlag: 2004
(3) Ibram X. Kendi: How to be an Antiracist. Bodley Head/Penguin: 2019
(4) Vergl. David Theo Goldberg: Racist Culture. Philosophy and the Politics of Meaning, Blackwell: 1993
(5) Europarat fordert von Deutschland Maßnahmen gegen Rassismus, in: ZEIT Online vom 17.03.2020