FOR THE RECORD #5: Hiba Salameh
FOR THE RECORD #5: Hiba Salameh
OFF THE RECORD ist eine Reihe von Listening Sessions, die sich mit globalen, außereuropäischen Musik- und Subkulturen auseinandersetzt. Sie ist 2017 aus einer Initiative von Interkultur Ruhr, Kalakuta Soul Records und der Labelmanagerin und Residentin im Programm von Interkultur Ruhr Avril Ceballos (Cómeme) hervorgegangen und wird in Kooperation mit dem atelier automatique fortgeführt.
Unter dem Titel FOR THE RECORD stellen Guy Dermosessian (Kalakuta Soul Records) und Eva Busch (atelier automatique) die Gastmusiker*innen und -DJs mit Interviews und fantastischen Mixtapes persönlich und musikalisch vor.
Die thematische Bandbreite der Veranstaltungsreihe reicht von der Sichtbarmachung vergessener oder marginalisierter Stimmen der Musikgeschichte bis hin zur Diskussion aktueller popkultureller Phänomene. Dabei spielt eine kritische Sensibilität für die sozialen und politischen Rahmungen dieser Entwicklungen eine große Rolle, vor allem in Hinblick auf die historischen Dimensionen postkolonialer gesellschaftlicher Verfasstheiten und zeitgenössischer Deutungshoheiten, Verwertungs- und Ausbeutungslogiken im Musikbereich.
Hiba Salameh bezeichnet sich als Botin sinnlicher, elektronischer und nostalgischer Atmosphären. Ihre Sets bringen verschiedene, jedoch verbundene Welten akustischer und elektronischer Musiktraditionen des mittleren Ostens sowie Samba und Afrobeat zusammen. Die ehemalige Besitzerin und Mitgründerin von Haifas legendärem Club, der Scene music bar, war am 12. Oktober 2019 bei einer Listening Session der Reihe OFF THE RECORD zu Gast. Exklusiv für diesen Beitrag hat sie einen speziellen Mix produziert, der uns auf eine Reise mitnimmt, von der wir mit verändertem Geist zurückkehren:
Wie würdest du die Musik beschreiben, die du spielst und mit anderen teilst? Wie hat sie sich über die Jahre entwickelt?
Die Musik, die ich spiele, ist zugleich groovy und nostalgisch. Ich mag es, wenn sie spirituell ist und Zuhörer*innen auf eine Reise über Grenzen hinweg nimmt und Grenzen der Welt und die Grenzen, die wir aufgebaut haben, durchbricht.
Zuerst war ich hin- und hergerissen darüber, mehrere Genres in einem Set zu spielen. Ich habe versucht, meine Stimme zu finden und dachte, dass sie aus einem oder vielleicht zwei Genres bestehen sollte. Dann fiel mir auf, dass mein musikalischer Geist dies absichtlich macht, also ich meine, dass ich verschiedene Genres in einem Set spiele.
Diese Vielfalt bietet die Möglichkeit, zwischen Genres zu wechseln indem sie gemixt werden, wodurch sie sichtbare und unsichtbare kulturelle und interne Grenzen aufbrechen.
Du siehst dich als DJ. Was bedeutet das für dich?
Weißt du noch, als CDs im Trend waren? Da war ich in der 7. Klasse auf der weiterführenden Schule. Ich habe damals CDs mit den guten alten Songs gemacht und manchmal habe ich sogar Bestellungen von anderen Schüler*innen erhalten, um die CDs zu kaufen. Dann hat sich die Technologie weiterentwickelt und ich habe angefangen bei Familienveranstaltungen, Hochzeiten, Geburtstagen von Freund*innen usw. Musik zu spielen. Auf meinem Computer sammelten sich Dateien von Liedern aus verschiedenen Genres an. Hip Hop palästinensischer Herkunft, Dabkeh-Musik und mehr.
Dann schlug ein*e Freund*in einmal vor, ich soll bei einer Veranstaltung Musik spielen und ich stand plötzlich vor 450 Leuten. Es fühlte sich mega an! Danach wurde daraus eine Partyreihe und ich war als DJ der Hauptact. Ich habe genug Geld verdient, um meinen ersten Controller zu kaufen. Ein unvergesslicher Moment.
Ich mache immer weiter, weil ich Musik als Widerstand und Revolution wahrnehme. Ich liebe es, die Musik von unterdrückten und marginalisierten Individuen und Gruppen auf die Bühne zu bringen.
Musik ist der Sound der Revolution. Da wir Menschen sind, die durch externe und interne Elemente unter Besatzung stehen, ist es für mich revolutionär, wenn sie auf einer Party ihre Unterdrückung wegtanzen. Anstatt sich z.B. für Gewalt zu entscheiden, kommen sie und stecken ihre Energie ins Tanzen und Zuhören. Für mich ist das ein klarer Erfolg.
Ich komme aus den Welten des Kinos und der Musik und zwischen den beiden schafft Musik Harmonie. Diese Verbindung zwischen den beiden Welten wird in den Vordergrund gerückt, wenn ich an kulturellen Veranstaltungsorten spiele, insbesondere Kino- oder Filmfestivals.
Inwiefern reagiert deine Arbeit auf bestehende und hegemoniale Gewohnheiten des Musikhörens und -konsums?
Es gibt viele bekannte Ansichten rund um Clubkultur und andere Pop-Genres. Mit meiner Auswahl an Musik hinterfrage ich diese hegemonialen Gewohnheiten des Musikkonsums, indem ich im Club Musik spiele, die in der Clubkultur ungewöhnlich ist. Zum Beispiel „Warda“. Songs von Warda Al-Jaza'iriya werden von vielen nicht als Clubmusik gesehen, da es eher arabische nostalgische klassische Musik ist, die man normalerweise nicht mitten in einem Club-DJ-Set hört. Dadurch halte ich dieses Musikerbe unter den jüngeren Generationen am Leben und definiere die Annahmen über Dance und Clubkultur neu.
Allerdings lassen die hegemonialen Gewohnheiten des Musikkonsums in den Clubs hier in Palästina arabische Mainstream-Musik erwarten, also breche ich diese Erwartungen, indem ich plötzlich einen kubanischen oder brasilianischen Rhythmus einbringe, während das Publikum seinen körperlichen Tanz fortsetzt und surrealistisch zwischen verschiedenen Genres und Welten tanzt.
Wie stellst du dir einen Ort vor, an dem Leute zusammenkommen und Musik zelebrieren können? Gab es oder gibt es Orte, an denen du diese Vision erlebst oder erlebt hast?
Ein großer Bereich, in dem es genug Platz gibt, damit Leute sich frei bewegen und gleichzeitig Intimität und Vertrauen gelebt werden können. Im Raum soll sich das Publikum wohl fühlen, um sich zu bewegen, und ein guter Klang schafft eine Art technisches und physisches Vertrauen, das es den Leuten erlaubt, ihre Phantasie zu entfesseln. So wird die Bindung zwischen dem Raum und dem Inneren gestärkt. Ich glaube, dass diese Aspekte auch den DJs eine besondere Verbindung mit dem Publikum ermöglichen.
Ich habe viele konkrete Beispiele im Kopf, OFF THE RECORD war ganz ehrlich definitiv eins davon. Das Besondere an diesen Räumen war die Vorbereitung der Bühne, die Technik, der Ton sowie die kulturelle Vielfalt des Publikums.
Welche Rolle spielt das Zuhören in deiner Arbeit? Wie wird das Zuhören wertschätzend? Wo platzierst du die Veranstaltung „OFF THE RECORD“ im Vergleich zu anderen Kulturen des Zuhörens?
Es gibt zwei Arten des Zuhörens, die ich täglich praktiziere. Zum einen die Musik aus meiner Kindheit, die ich auch heute noch wiederholt höre. Und zweitens, stundenlang neue Musik zu hören. Im Alltag höre ich je nach Stimmung unterschiedliche Genres. Ich habe für jede Stimmung eine Playlist. Zuhören ist extrem wichtig, da ich die Angewohnheit habe, jeden Tag 2-3 Stunden Musik zu hören. Durch das wiederholte Hören eröffnen sich neue Perspektiven auf dieselbe Musik. Oft nehme ich mir einen ganzen Tag Zeit, um aktiv Musik zu hören, um mir gut auszusuchen, was ich in meinen Sets spielen möchte.
Welche Erinnerung von der Veranstaltung „OFF THE RECORD“ möchtest Du mit uns teilen?
Eine ganz besondere Erinnerung ist die Hör-Session vor der Party. Es gab mir die Möglichkeit, vor der Party ein Gespräch mit dem Publikum zu führen, anstatt mich selber vorher aufzumuntern – wie ich es sonst üblich mache :) und das hat es mir ermöglicht, meine Emotionen am selben Abend auf der Bühne in meine Musik fließen zu lassen. OFF THE RECORD ist erfolgreich darin, einen Raum zu schaffen, wo sich die Gedankenprozesse von DJs einfach manifestieren können.
Welche Gedanken stecken hinter der Auswahl, die Du in deinem Set aufgenommen hast?
Mit Covid-19 standen wir alle unter Quarantäne und hatten nicht die Möglichkeit, physisch zu reisen. Deswegen habe ich mich entschieden, euch auf eine Reise um die Welt mitzunehmen, wo wir verschiedene kulturelle Räume besuchen, und starte und beende dieses Set mit meiner eigenen, sehr geschätzten Kultur. Nur selten beginnen wir eine Reise an einem bestimmten Ort und kommen dann nach der Reise mit einem veränderten Geist an denselben Ort zurück. Ich hoffe, dass mein Set eine solche Veränderung anregt.
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// Kurztbiografie
Hiba Salameh – Kuratorin für elektronische, tiefgehende, nostalgische Atmosphäre. Hiba spielt eine Fusion von Melodien, die arabische Elektronik, funky mittelöstliche Melodien mit Samba und Afro-Beat vermischen. Sie versucht, verschiedene Musikgenres zu spielen, die für sie eine spezifische Nostalgie ausdrücken, die durch die Beziehung zwischen Klang und sinnlicher Erinnerung entsteht.
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Weitere Folgen:
FOR THE RECORD #1: Ernesto Chahoud
FOR THE RECORD #2: Habibi Funk