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Vom Rande aus: Istanbul

Vom Rande aus: Istanbul. Foto: Esra Canpalat

Vom Rande aus: Istanbul

von: 
Esra Canpalat

VOM RANDE AUS. Die Kolumne von Esra Canpalat

 

Vom Rande aus: Istanbul

Bis wohin reicht eigentlich das Ruhrgebiet? Eine Landkarte allein kann diese Frage nicht beantworten. Lebensgeschichten, Erinnerungen, Herzen halten sich nicht an kartografierte Grenzen. Schon gar nicht, wenn diese Geschichten viel damit zu tun haben, Grenzen zu überqueren, irgendwann hinter sich zu lassen und doch nie ganz.

Wo das Zentrum sich befindet, wo ein Rand verläuft, wo ein Zwischenbereich ist, hängt immer von solchen Geschichten ab. Für meine Eltern, die aus großstädtischer Perspektive aus entlegenen Gebieten kamen, war Istanbul eine Stadt am Rand. Nicht mehr als eine Transitzone. Als es erschwinglicher wurde zu fliegen, landeten wir in den Sommerferien immer in Istanbul, von wo aus wir weiter Richtung Schwarzmeerküste fuhren.

Ich erinnere mich, wie ich sehnsüchtig aus dem Autofenster blickte, mir die im warmen, orangenen Licht der riesigen Y-förmigen Straßenlaternen getauchten Wege anschaute und die Sehenswürdigkeiten aus der Ferne erahnte. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, wir hätten wenigstens eine Nacht dort verbracht.

Vielleicht ist es für einige nicht verständlich, warum man eine pulsierende Metropole wie Istanbul nicht sehen mag. Ich fragte baba einmal, warum er immer nur nach Bartın wolle. Er sagte:

Ich habe schon alles gesehen.

Was er damit sagen wollte, war: Ich habe keine Zeit, andere Orte zu sehen. Ich möchte so lange wie möglich das sehen können, was ich das ganze Jahr über vermisse. Bis zu seiner Abreise zählte er immer die Tage und vergaß: Das Ruhrgebiet konnte er nie zurücklassen. Es holte ihn irgendwann immer ein.

Ich habe es endlich geschafft, aus dem Auto auszusteigen. Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in einem Apartment in Beyoğlu, höre das geschäftige Treiben der Cafés im Erdgeschoss, das Klirren von Teegläsern, das Klappern der Tavla-Würfel, höre die Kinder auf dem Schulhof der angrenzenden griechischen Schule in den Pausen schreien, höre den Wind, der den buttrigen Geruch von Gözleme aus dem Café unter meiner Wohnung zu mir hereinträgt. Das war es doch, was ich mir immer gewünscht habe, was ich erleben wollte, als ich im Jugendalter traurig aus dem Fenster blickte.

Ich bin hier. Doch in Gedanken bin ich immer dort. Denn ich stelle fest: Istanbul verschaffte uns nicht nur den Zugang zu den Heimatorten unserer Eltern, half uns, wenn auch nur ein kleines bisschen, sie und ihre Sehnsüchte besser zu verstehen. Istanbul brachte uns auch ins Ruhrgebiet. Ich atme auf, denke, dass ich ja noch genug Tage habe bis zu meiner Rückkehr und vergesse: Das Ruhrgebiet holt mich immer wieder ein.

Auch anne kann das Ruhrgebiet nicht loslassen. Bis heute ist für sie die Frage der Rückkehr nicht eindeutig beantwortet. Ist sie hier, ist sie in Gedanken dort. Ist sie dort, ist sie in Gedanken hier. Wie viele der gurbetçis verbringt anne die eine Hälfte des Jahres in der Türkei, die andere in Deutschland. Sie sagt:

Kaldık işte öyle arada.

So sind wir eben im Dazwischen steckengeblieben.

Die Geschichte meiner Eltern beginnt am Schwarzen Meer. Und auch die Geschichte des deutschen Bergbaus ist mit dieser Geografie verbunden. Viele, die in Zonguldak oder Bartın bereits unter Tage gearbeitet hatten, verschafften sich bei den dortigen Behörden Arbeitserlaubnisse für Deutschland. Die beschwerliche Arbeit kannten sie bereits, doch Almanya brachte die Hoffnung auf mehr finanzielle Sicherheit und Glück. Das dachte auch baba, ging erst allein nach Deutschland, und brachte ein Jahr später meine Mutter mit. Anne wollte ihm nicht folgen, schlug mit ihren Fäusten gegen die Fensterscheiben des Busses, der sie zum Flughafen nach Istanbul bringen sollte.   

In Istanbul gibt es viele Orte, die in Verbindung mit der Geschichte der Gastarbeiter*innen stehen. Zum Beispiel die ehemalige Deutsche Anwerbestelle in Tophane, wo eine Vielzahl der Arbeitsmigrant*innen nach Deutschland vermittelt wurden. Selbstverständlich nach entwürdigenden medizinischen Untersuchungen, um herauszufinden, ob sie als Arbeitstiere taugen. Oder der Bahnhof in Sirkeci, erbaut von einem preußischen Baubeamten im Stile des europäischen Orientalismus, von wo aus bis Mitte der 1960er Jahre Sonderzüge für den Transport der migrantischen Arbeitskräfte nach Deutschland fuhren.

Es sind Orte, die nicht zum Verweilen einladen. Es sind eben Transitzonen auf dem Weg ins Unbekannte. Viele von ihnen kamen das erste Mal nach Istanbul, sahen nicht mehr als die engen Flure der bis in die Türkei reichenden Arme der deutschen Bürokratie und die imposante Bahnhofshalle in Sirkeci. Es sind mittlerweile ikonische Orte der deutschen Migrationsgeschichte, sie sind bekannt aus Dokus und Ausstellungen zu Gastarbeiter*innen. Doch auf der Karte unserer Familiengeschichte sind sie nicht aufgezeichnet. Baba erledigte alles Bürokratische bereits in Zonguldak. Und er kam erst Anfang der 1970er, kurz vor dem Anwerbestopp, nach Deutschland, und zwar mit dem Flugzeug.

Wenn es einen Ort in Istanbul gibt, der auf der Ruhrgebietskarte meiner Eltern Platz findet, dann ist es Yeşilyurt. Als anne und baba damals mit dem Bus in Istanbul ankamen, blieben sie auf Empfehlung des Taxifahrers eine Nacht im Çınar Hotel, das sich in der Nähe des damaligen Yeşilköy Flughafens befand. Es war wieder nur ein Transitort, aber anne erzählte, wie sehr ihr Yeşilyurt gefallen hatte.

In Sirkeci steige ich in die Marmaray-Bahn, steige in Yeşilyurt aus, laufe von der Bahnstation eine Viertelstunde bis zum Hotel. Ich laufe weiter Richtung Wasser, spaziere an der Promenade entlang, sehe vereinzelt Menschen, die am Strand die letzten Sonnenstrahlen des Septembers genießen, sehe Schiffe im Marmarameer, die wie in einer Kette aufgereiht in der Ferne warten. Ich drehe mich in Richtung des Hotels um, schaue mir noch einmal das breite Gebäude mit seiner grauen Fassade und seinen zurückgesetzten Balkonen an.

Wie so oft waren annes Schilderungen sehr knapp gewesen. Sie hatte gesagt:

Es war schön.

Ich frage mich, was genau ihr an diesem Ort gefallen hatte. Was hatte sie gedacht, als sie hier ankam? Wovon hatte sie in der Nacht geträumt? Hatte sie verstanden, dass dieses Hotel auf ewig mit ihrer Geschichte verbunden sein würde? Dass dieser Ort die Grenzen ihres Lebens gleichermaßen einengen und erweitern würde, dass das Dazwischen, in dem sie seither steckt, hier seinen Anfang nehmen würde? Ich schaue ein letztes Mal zum Hotel, bevor ich weiter an der Promenade weiterspaziere. Ich hoffe, dass anne ein Zimmer mit Meerblick hatte, dass sie an ihrem letzten Tag noch etwas Schönes sah, bevor sie voller Enttäuschung feststellte, wie hässlich und trostlos der Ort war, an dem baba sie brachte.

Jetzt sitze ich in einer Wohnung in Kadıköy. Ich höre in der Ferne LKWs, höre, wie Waren ausgeliefert werden, ich höre draußen eine Katze mitleidig miauen, höre das nervtötende Brummen eines Motorrollers, der durch das Wohnviertel düst, höre einen Mann vorbeilaufen, der am Telefon mit seinem kanka spricht. Geografisch befinde ich mich auf der asiatischen Seite, habe mich 20 Kilometer näher an den Heimatort meiner Eltern genähert, zwischen mir und dem Ruhrgebiet liegen mehr als 2500 km.

Doch ich weiß: Lebensgeschichten passen nicht auf Landkarten. Ich habe es endlich geschafft, aus dem Auto auszusteigen. Istanbul ist nun mehr als ein Durchfahrtsort für mich, ist Teil meiner Geschichte geworden. Mehr als drei Monate sind vergangen.

Heute ist mein letzter Tag, ich zähle die restlichen Stunden. Das Ruhrgebiet ist bereits hier. Und wenn ich dort bin, werde ich in Gedanken wieder hier sein.

 

Esra Canpalat ist eine aus Kamen stammende Autorin und Literaturwissenschaftlerin aus dem Ruhrgebiet und Preisträgerin des Förderpreises des Literaturpreises Ruhr 2021. Sie schreibt Erzählungen, Essays, Rezensionen, wissenschaftliche Artikel und kulturvermittelnde Texte, wobei ein Themenschwerpunkt autobiografisches Erinnern und dokumentarisches Schreiben und Erzählen ist. Derzeit arbeitet sie an einem Romanprojekt über (post)migrantische Erinnerung und intergenerationelle Traumata. https://esracanpalat.com

 

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