Vom Rande aus: Kamen
Vom Rande aus: Kamen
VOM RANDE AUS. Die Kolumne von Esra Canpalat
Vom Rande aus: Kamen
Ein Rand ist „die äußere Begrenzung einer Fläche, eines Gebiets.“ Der Rand ist mir bekannt. Ich nähere mich ihm mit den Händen, mit denen ich diesen Text schreibe. Ich schreibe, weil ich muss. Weil ich den Rand so viel besser in Worte packen kann, wenn ich schreibe. Wenn die Wörter auf der leeren Seite einen Rand sichtbar machen.
Mit neun Jahren habe ich angefangen, kurz nachdem ich vor der ganzen Klasse einen Aufsatz vorgetragen und die Klassenlehrerin gesagt hat, das hätte ich gut gemacht. Ich habe angefangen zu schreiben, weil ich nicht verstanden habe. Weil ich mich nicht verstanden gefühlt habe. Ich möchte ehrlich sein: Ich schreibe, denn ich trage immer noch das Gefühl in mir, nirgendwohin zu gehören. Ich weiß nicht, ob das etwas Gutes oder Schlechtes ist. Ich vermute, es kommt auf die Situation an. Vielleicht ist es aber auch nur: Einsamkeit. Auch das kann mal gut, mal schlecht sein. Vom Rande aus lässt sich Vieles besser beobachten und einschätzen. Je näher ich anderen bin, desto mehr wird mein Blick eingeschränkt, und desto weniger fällt es mir schwer, mich zu distanzieren. Am Rande sein, bedeutet aber eben auch, weder hier noch dort zu sein. Dort, von wo ich schreibe, war und ist immer am Rand. Manchmal auch am Rande des Wahnsinns. Sait Faik Abasıyanık soll einmal gesagt haben: „Yazmasam deli olacaktım“/“Würde ich nicht schreiben, wäre ich durchgedreht.“
Am Rande zu sein habe ich nicht zuletzt in der Stadt gelernt, in der ich aufgewachsen bin. Es muss kein besonderes Aufheben drum gemacht werden, es hätte auch jede andere Stadt sein können. Der Bergbau war es aber, der meinen Vater und damit uns von einem Ort des östlichen Ruhrgebiets in den nächsten brachte. Schließlich landeten wir in Kamen. Später, als ich anfing in Bochum zu studieren, war den meisten meiner Mitstudierenden Kamen nur ein Begriff wegen des Kamener Kreuzes, einer der wichtigsten Straßenverbindungspunkte Deutschlands und oftmals Gegenstand der Verkehrsmeldungen im Radio. Und wegen der IKEA-Filiale im Gewerbegebiet Kamen Karree. Kamens Randständigkeit wurde mir bei jeder Zugfahrt aus der sogenannten Perle im Revier wieder zurück Richtung Osten in Erinnerung gebracht. Der Tarifbereich des Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) endete immer in Kamen, danach fing der Verkehrsverbund Ruhr-Lippe (VRL) an. Kurz bevor diese Grauzone erreicht wurde, standen Fahrkartenkontrolleur*innen schon bereit und fragten, wo man gleich aussteigen wird. Ich frage mich: Ist die Frage „wohin gehst du“ nicht im Grunde genommen dieselbe wie „woher kommst du eigentlich wirklich her“?
Der Rand ist aber nicht nur eine Begrenzung, sondern kann auch etwas sein, „was etwas umfasst und ihm Halt gibt“. Ich möchte wirklich nicht schlecht über die Stadt daherreden, in der ich aufgewachsen bin. Das erscheint mir irgendwie als überheblich. Natürlich gibt es Orte in Kamen, die ich mit guten Erinnerungen verbinde. Zum Beispiel die Rapsfelder auf der Lüner Höhe, direkt wo die A2 die Landschaft durchkreuzt. Dort ging ich stundenlang spazieren. Einige der wenigen Gelegenheiten, für mehrere Stunden allein, für mich zu sein. Der letzte Stopp war immer ein Windrad. Dort oben saß ich dann, fühlte mich unter den riesigen Rotorblättern geschützt. Von dort oben sah mich niemand. Ich wiederum konnte Alles überblicken. Von dieser erhöhten Position aus konnte ich die Felder sehen, die wie Flickenteppiche die Ränder Kamens und Bergkamens miteinander verbanden. Das sind alles schöne Erinnerungen. Aber war Kamen ein Ort, der mich umfasste, der mir Halt gab? Ich denke: Nein. Sonst hätte ich nicht ständig dort oben gesessen und Classic Teenage Angst geschoben.
Jedes Mal, wenn ich nach Kamen fahre, ist der Rand das Erste, was ich wahrnehme. Kurz bevor der Zug einfährt, blitzen die Reihenhäuser Kamen-Methlers in der Landschaft auf. Nach Methler zu fahren war für mich immer damit verbunden, über den Rand hinauszufahren. Und damit meine ich: Den uns zugeschriebenen Rand. Erst kürzlich erzählte mir anne von den schlechten Häusern, in die sie Anfang der 1970er Jahre einziehen mussten, als sie nach Deutschland kamen. Die Wohnung, in die wir dann zuletzt in den 90ern einzogen, war im Vergleich sehr gepflegt. Und dennoch: Es war ein Zechenviertel. Dort lebten eben insbesondere Menschen, die in den Zechen arbeiteten bzw. gearbeitet hatten.
Nach Kamen-Methler zu fahren bedeutete, mit einem klapprigen Rad erst die vielbefahrene Lünener Straße zu erklimmen, um danach auf leeren Landstraßen endlich die Füße vom Pedal nehmen zu können. Es bedeutete, sich ständig zu verfahren, die falsche Abbiegung zu nehmen, die Orientierung zu verlieren, weil alle Reihenhaussiedlungen gleich aussehen und alle Straßen, die nach putzigen Tieren oder Pflanzenarten benannt wurden, gleichklangen. Es bedeutete, von jemandem eingeladen worden zu sein, der nicht nur ein eigenes Zimmer hatte, sondern auch einen Partykeller. Es bedeutete, sich wie gelähmt vor Unwohlsein an einem Bier zu klammern, das kastenweise von den Eltern bereitgestellt worden war. Es bedeutete, unangenehme Fragen zu beantworten. Es bedeutete, später mit Verwunderung wieder zuhause zu sitzen, versuchen zu verstehen, was anders war zwischen mir und den Hausparty-Kindern. Nach Kamen-Methler zu fahren bedeutete, den Stift zu ergreifen und zu schreiben, obwohl oder eben, weil ich nicht verstand.
Nähert sich der Zug dem Bahnhof, ist irgendwann der Förderturm der Zeche Monopol zu sehen. Lange Zeit habe ich gedacht, mein Vater hätte genau dort gearbeitet. Ich fragte mich: Warum sonst wohnten wir in unmittelbarer Nähe? Im Badezimmer stapelten sich doch die RAG-Seifen und Ohropax. Es waren die letzten Relikte, die bewiesen, dass baba Bergarbeiter gewesen war. Bis anne mich darüber aufklärte, dass er an einem ganz anderen Zechenstandort gearbeitet hatte. Später erfahre ich: Monopol wurde bereits 1981 stillgelegt. Mit dem anrückenden Ende des Bergbaus wurden dort neue Häuser und Wohnungssiedlungen gebaut, sodass auch Arbeiter*innenfamilien nach bürgerlichen Standards leben konnten. Auch meine Familie. Die Wohnung war immer noch zu klein für unsere siebenköpfige Familie, aber immerhin mit eigenem Bad und sogar Balkon. Meine Mutter sagte: Und in den alten Bruchbuden, in denen wir früher gelebt haben, müssen jetzt wieder Ausländer leben, denen es viel schlechter als uns geht.
Ich kann mit Ruhrpott-Romantik nichts anfangen. Menschen starben. Und wenn sie nicht auf der Arbeit starben, starben sie später durch die Folgen der Arbeit. Wie baba. „Der ist weg vom Fenster“ ist eine euphemistische Redewendung, die Bergleute nutzten, wenn jemand, der wegen seiner Staublunge an der Fensterbank frische Luft schnappte, irgendwann verstarb. Und nicht alle wurden als Kumpels angesehen. Vor allem nicht die migrantischen Arbeiter.
Baba sprach nie von der Arbeit. Erst Jahre später, am Küchentisch, erzählte er mir von einem Unfall unter Tage, der ihm beinahe das Leben kostete. Ich kannte die Narbe an seinem Kinn, direkt unterhalb seiner Lippen. Ich fragte aber nie. Nicht alle waren Kumpels. Als mein Vater den Steiger darauf aufmerksam machte, dass die Decke über ihm kurz vorm Einstürzen war, sagte dieser nur, er solle sich nicht anstellen. Die Decke stürzte ein und begrub meinen Vater unter sich.
Erst als baba zu erzählen anfing, verstand ich: Von weit oben unter dem Getöse des Windrads kann ich Flächen sehen, die miteinander zusammenhängen, aber es gibt Wundränder, die niemals zusammenwachsen werden.
Vom Rande aus lässt sich Vieles besser beobachten und einschätzen. Ich nähere mich ihm mit meinen Händen. Ich schreibe, weil ich nicht anders kann. Sind Aufmerksamkeit und Liebe ein- und dasselbe? Ich denke: Nein. Ich bin aufmerksam, nicht, weil ich liebe, sondern weil ich verstehen will. Ich liebe Kamen nicht, Ich hasse Kamen nicht. Kamen war eine Station in meinem Leben, um zu verstehen. Und jeder, der über die Herzlichkeit des Ruhrgebiets spricht, hat noch nie am Rande gesessen und nervös an dem aufgeweichten Etikett einer Bierflasche geknibbelt.
Esra Canpalat ist eine aus Kamen stammende Autorin und Literaturwissenschaftlerin aus dem Ruhrgebiet und Preisträgerin des Förderpreises des Literaturpreises Ruhr 2021. Sie schreibt Erzählungen, Essays, Rezensionen, wissenschaftliche Artikel und kulturvermittelnde Texte, wobei ein Themenschwerpunkt autobiografisches Erinnern und dokumentarisches Schreiben und Erzählen ist. Derzeit arbeitet sie an einem Romanprojekt über (post)migrantische Erinnerung und intergenerationelle Traumata. https://esracanpalat.com
Die Fotos für „Vom Rande aus“ stammen vom Duisburger Fotokünstler Fatih Kurçeren. Seine Fotografien versuchen das Ruhrgebiet als einen Ort wahrzunehmen, an dem sich Identitäten und festgefügte soziale Strukturen auflösen. Kurçeren richtet seinen Blick auf die Region und ihre Bewohner:innen. Dazu bewegt er sich an den unscharfen Rändern einer Gesellschaft, deren Mitte ebenso unklar erscheint wie die Fragen nach ihren Normen, nach ihrem Innen und Außen sowie nach dem, was ihr fremd und eigen ist. http://www.fatihkurceren.com
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