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Vom Rande aus: Oer-Erkenschwick

Vom Rande aus: Oer-Erkenschwick. Foto: Fatih Kurçeren

Vom Rande aus: Oer-Erkenschwick

von: 
Esra Canpalat

VOM RANDE AUS. Die Kolumne von Esra Canpalat

 

Vom Rande aus: Oer-Erkenschwick

Ich fahre nach Oer-Erkenschwick. Meinen Besuch habe ich nicht angekündigt. In meinem Hals ein Gefühl, als steckte dort eine spitze Fischgräte fest. Vielleicht ist es noch die Nachwirkung der Mandeloperation, der ich mich kürzlich unterziehen musste. Vielleicht ist es aber noch der Februar, der sich an das aufgeraute Gewebe festgesetzt hat und mich nur schwer schlucken lässt. Der Jahrestag des rassistischen Anschlags in Hanau ist nur eine Woche her, während ich durch Oer-Erkenschwick laufe. In knapp einem Monat wird erneut ein Wohnhaus in Solingen brennen und eine Familie sterben.

Für viele ist die am nördlichen Rand des Ruhrgebiets gelegene Stadt vermutlich wegen Leonardo DiCaprio ein Begriff. Ich zumindest erinnere mich noch, wie ich als Teenie im Wohnzimmer saß und gelangweilt eine Boulevardsendung schaute. Leo erzählte in seinem gebrochenen Deutsch, das alle immer extrem süß fanden, von seiner allerliebsten Oma aus Oer-Erkenschwick. Eine kleine Stadt, 2 Stunden von Düsseldorf entfernt, sagte Leo.

Eine weitere Erinnerung steht in Verbindung mit dem niederdeutschen Dehnungs-e im Stadtnamen, das dazu führt, dass die drei Buchstaben vor dem Bindestrich nicht „Ör“ sondern „Ohr“ ausgesprochen werden. Für meine Eltern, deren Deutsch niemand niedlich fand, stellte aber nicht nur dieses e eine Herausforderung dar. Früher, als sie noch ein Auto besaßen, besuchten sie regelmäßig an den Wochenenden ihre Freund*innen. „Wir fahren zu den Ergenşerif”, hieß es dann. Lange Zeit dachte ich, dies sei der Familienname dieser Bekannten. Das erschien mir nicht abwegig, schließlich klang es für mich wie ein türkisches Wort. Es gingen Jahre ins Land, bis ich verstand, dass das kein Nachname war. Es war die Aussprache meiner Eltern für Erkenschwick.

Für mich ist es interessant, dass meine Eltern diese Bekannten als Erkenschwicker bezeichneten. Denn der Grund, warum sich viele migrantische Familien früher ständig gegenseitig besuchten, gemeinsam aßen und bis tief in die Nacht redeten, war das Gefühl der Nichtzugehörigkeit, des Nichtverortenkönnens. Sie besuchten sich, weil es sonst kaum Menschen gab, denen sie sich anvertrauen konnten, wenig Orte, in denen sie sich sicher fühlten, wenig Möglichkeiten, um sich zu versammeln und ungestört in ihrer Sprache zu sprechen.

Als Kind konnte ich es nicht leiden, wenn wir Besuch bekamen oder, wenn meine Eltern mich zwangen, mit zu Bekannten zu kommen. Heute, mit dem Februar in meinem Hals, verstehe ich diese wochenendlichen Zusammenkünfte besser.

Anne hat natürlich die Adresse der Ergenşerif nirgendwo aufgeschrieben. Ich frage sie, warum es diese Gastfreund*innenschaft von früher nicht mehr gibt. Sie weiß es auch nicht genau. Und die Kinder machen das sowieso nicht mehr. Unangekündigt oder spontan vorbeikommen, das gilt heute als unhöflich. Vergangenes Jahr sprach ich im Rahmen des Projekts Stadt der Vielen Bochum mit Vera, die Anfang der 80er aus der ehemaligen UDSSR nach Deutschland einwanderte. Sie sagte: In diesem Land wirst du niemals von dem Klingeln der Tür überrascht werden. Sie vermisse die spontanen Besuche ihrer Freund*innen und Verwandten.

Ich kenne niemanden, den ich unangekündigt in Oer-Erkenschwick besuchen könnte, laufe ziellos vom Berliner Platz los, ohne die geringste Ahnung, wo die Ergenşerif gewohnt haben könnten. Ich laufe an Wohngebieten und Mehrfamilienhäusern vorbei, versuche mich an das Haus, in dem die Ergenşerif wohnten, zu erinnern. Ich blicke die einheitlichen Hausfassaden der Nachkriegsbauten an, die geometrisch angeordneten Fenster, weiße Gardinen. Eine vage Erinnerung taucht auf.

Die Jüngste der Ergenşerif mit dem Rücken zu mir stehend, blickt durch die Spitzengardinen hindurch aus dem Fenster herunter zur Straße. Hatte sie ein Geräusch gehört? Hatte sie jemanden erwartet? Oder hatte sie sichergehen wollen, dass alles in Ordnung ist? Damals hatte ich ihr Verhalten nicht verstanden. Heute mit dem Februar im Hals verstehe ich, warum ein Türklingeln Freude bringen kann, und ein verdächtiges Geräusch vor deinem Haus Angst.

Ich gehe näher an ein Haus heran, schaue mir die unterschiedlichen Nachnamen auf den Klingelschildern an, frage mich, was passieren würde, wenn ich mich trauen würde, auf eine Klingel zu drücken. Würde mir die Tür geöffnet werden? Würde mir jemand beantworten können, wie ich noch weitere Jahre Deutschland ertragen soll?

Und dann erinnere ich mich, wie es einmal an einem Sonntag unerwartet an meiner Tür klingelte. Ich war noch im Pyjama und dachte, nichts werde wieder gut werden. Wenige Sekunden später stand Alexis vor der Wohnungstür. Er sagte, er sei in der Nähe gewesen. Er sah mir deutlich meine Zerstreutheit an, schob direkt hinterher, dass, wenn es mir nicht passe, er auch wieder gehen könne. Ich hätte am liebsten gesagt, dass ich nur so merkwürdig reagiere, weil ich vor wenigen Sekunden noch dachte, so etwas wie ein warmherziges Lächeln, das gäbe es einfach nicht. Ich ließ ihn herein und kochte uns Tee.

Ich kenne niemanden in Oer-Erkenschwick. Aber hier werde ich daran erinnert, dass es Menschen gibt, die mich nicht vergessen werden, ganz gleich, wie rau der Februar und die kommenden Monate auch sein mögen.

 

Esra Canpalat ist eine aus Kamen stammende Autorin und Literaturwissenschaftlerin aus dem Ruhrgebiet und Preisträgerin des Förderpreises des Literaturpreises Ruhr 2021. Sie schreibt Erzählungen, Essays, Rezensionen, wissenschaftliche Artikel und kulturvermittelnde Texte, wobei ein Themenschwerpunkt autobiografisches Erinnern und dokumentarisches Schreiben und Erzählen ist. Derzeit arbeitet sie an einem Romanprojekt über (post)migrantische Erinnerung und intergenerationelle Traumata. https://esracanpalat.com

Die Fotos für „Vom Rande aus“ stammen vom Duisburger Fotokünstler Fatih Kurçeren. Seine Fotografien versuchen das Ruhrgebiet als einen Ort wahrzunehmen, an dem sich Identitäten und festgefügte soziale Strukturen auflösen. Kurçeren richtet seinen Blick auf die Region und ihre Bewohner:innen. Dazu bewegt er sich an den unscharfen Rändern einer Gesellschaft, deren Mitte ebenso unklar erscheint wie die Fragen nach ihren Normen, nach ihrem Innen und Außen sowie nach dem, was ihr fremd und eigen ist. http://www.fatihkurceren.com

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