Vom Rande aus: Breckerfeld
Vom Rande aus: Breckerfeld
VOM RANDE AUS. Die Kolumne von Esra Canpalat
Vom Rande aus: Breckerfeld
Ciao ragazzi, wir packen unsere Sachen und fahren weg! Der Gedanke ist verlockend: Alles einfach stehen und liegen lassen, in den nächsten Zug nach Italien steigen, an Tischen mit rot-weiß karierten Tischdecken sitzen und Aperol Spritz schlürfen. Doch vorerst reicht es nur für einen Ausflug bis zum südlichsten Rand des Ruhrgebiets. Näher als Breckerfeld können wir Italien nicht sein. Bevor wir losfahren, steckt Julia noch einen Italienreiseführer aus den 80ern in ihre kleine Tasche, die kurz vorm Bersten ist. Auf dem Weg verfahren wir uns und biegen aus Versehen in den Volmeabstieg ab. Als wir unter der 40 m hohen Talbrücke Delstern fahren, liest Julia laut von der italienischen Straßenbaukunst und den prächtigen Brückenbauten der westlichen Gardesana vor.
Am Rande des Ruhrgebiets am Rand einer Pizza knabbern. Witzig. Ist es die Kraft der Suggestion, die uns zum Scherzen animiert? Oder der Umstand, dass wir alle von den arbeitsreichen Wochen, die einfach nicht weniger werden wollen, ziemlich durch sind? Wann ist Arbeit ‚erledigt‘ und der Urlaub ‚wohlverdient‘, wenn man was mit Kunst und Worten macht? Wenn der Text zu Ende geschrieben ist? In Julias Tasche ist kein Platz mehr für meinen Roman, aber den schleppe ich überall mit mir herum, auch in den Urlaub. Und der Grund für den Ausflug ist ja auch ein Text, der nicht geschrieben ist, nämlich genau dieser Kolumnentext.
„Italien!“, heißt es sofort, als Eva eine Gruppe von Jugendlichen, die wir später in Breckerfeld treffen werden, fragt, wohin sie am liebsten verreisen würden. Die Faszination für Italien ist jahrhundertealt (Stichwort Goethe, Bildungsreisen elitärer Klassen während der Kaiserzeit), doch erst Mitte der 50er Jahre, mit zunehmendem Wohlstand und geregelten Arbeitszeiten konnten es sich auch Normalbürger*innen leisten, Erholung von der anstrengenden Arbeit in fernen Ländern zu suchen. Bis heute ist Italien neben den heimischen deutschen Gefilden und Spanien (oder besser gesagt Mallorca) eines der Lieblingsreiseziele der Deutschen. Auf das, was für die italienische Lebensart gehalten wird, dolce vita und dolce far niente, wird das ganze Jahr über hingearbeitet.
Doch wie bei so vielen Themen in diesem Land, wird auch hinsichtlich der Romantisierung Italiens als Urlaubsparadies eine Sache verkannt: Kontinuität. Der Ursprung von Pauschaltourismus liegt nämlich nicht in der Nachkriegszeit, sondern in den 1930er Jahren, als die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) Reisen anbot, die sich ein großer Teil der Bevölkerung sonst nicht leisten konnte, zum Beispiel in befreundete Regime, wie das faschistische Italien. Bekannte deutsche Tourismusunternehmen kooperierten während der NS-Zeit mit der KdF und profitierten von der Arisierung jüdischer Reiseunternehmen sowie der Deportation von Jüdinnen*Juden in Konzentrationslager und der Verschleppung von Zwangsarbeiter*innen in Arbeitslager. So zum Beispiel der Touristikkonzern DER, der seiner Unternehmensgeschichte treu bleibend heute im Auftrag der Bundesrepublik Abschiebungen von Geflüchteten organisiert.
In Breckerfeld angekommen möchten wir zunächst unseren Hunger bei Sonnenschein stillen. Leider macht uns der Feiertag und das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Die örtliche Pizzeria hat geschlossen. Und Eva, die getrennt von uns mit dem Fahrrad anreist, gerät in den Regenschauer. Wir beschließen kurzerhand unsere Pizza nicht in Italien, sondern in Halikarnassos zu essen. Einen Jugendlichen, der sich an der Theke einen Döner zum Mitnehmen bestellt, bitten wir, ein Foto von uns zu machen. Als Bekannte später die Fotos unseres Ausflugs auf Instagram sehen, fragen sie uns, ob wir gemeinsam in den Urlaub gefahren sind. Aber so weit müssen wir gar nicht fahren, Italien ist ja überall!
Auch nach dem Krieg musste man gar nicht so weit fahren. Die Italienreisen umfassten zunächst nur Gebiete im Norden rund um den Gardasee und die Adria und breiteten sich erst später in die anderen Teile des Landes aus. Eine weitere Sache gerät bei all der Italomania in den Hintergrund: Ausschlaggebender Faktor, warum es Menschen nach dem Krieg besser ging, war die Ausbeutung von Gastarbeiter*innen, die im hohen Maße zum sogenannten Wirtschaftswunder Deutschlands beitrugen. Es kamen Menschen, u.a. aus Italien, besonders aus den armen Regionen des Südens, wo es keine Industrie, geschweige denn Tourismus und erst recht kein süßes Leben gab. Und in Deutschland schmeckte alles umso bitterer, oder eben nach gar nichts. „Es ist hier nicht viel los, aber uns geht es gut. Ich kann mich nicht beklagen“, erzählt die Imbissbesitzerin auf Türkisch, als Negar sie vor unserem Abschied fragt, wie es ihr in Breckerfeld gefällt.
Natürlich dürfen kulturelle Sehenswürdigkeiten nicht fehlen. Breckerfeld ist nämlich nicht nur Hansestadt. Auch der Jakobsweg führt hier durch. Wie am Trevi-Brunnen in Rom werfen wir Münzen in den Jakobsbrunnen. Ich wünsche mir, nächstes Mal mit weniger Gepäck zu verreisen. Mit unserem Reiseführer bewegen wir uns zwischen Mailand und Turin. An der Jakobus-Kirche a.k.a. dem Dom von Ivrea machen wir einen Zwischenstopp. Weiter an der mittelalterlichen Stadtmauer entlang gelangen wir schließlich zu einem Spielplatz, wo besagte Gruppe von Jugendlichen sitzt. Auf die Frage, wohin sie gerne verreisen würden, wird neben Italien auch Spanien und die Türkei genannt. Einer sagt, er würde am liebsten Urlaub in Ghana machen. Er sei ohnehin aus Afrika und wäre hier nur zu Besuch. Ob wir für die AfD sind, fragt ein anderer misstrauisch, und wir verneinen sofort. „Sehen wir so aus?“, fragt Negar empört. Es sind noch 10 Tage bis zu den Europawahlen. Danach werde ich wieder mit Menschen sprechen, die ernsthaft überlegen werden, Deutschland zu verlassen, noch bevor für sie All-Inclusive-Abschiebepakete bei Reisekonzernen gebucht werden. Menschen, die dieses Land überhaupt lebbar für mich machen.
„Und was kann man in Breckerfeld noch so machen?“, fragt Eva weiter. „Nichts“, wird im Chor gerufen. Aber wenn sie uns was empfehlen müssten, dann die Eisdiele. Das Himbeereis sei neu auf der Karte und richtig lecker. Unser Ausflug endet im Eiscafé Venezia. Als unsere Eisbecher serviert werden, kommt Julia mit einem letzten Fakt um die Ecke: Die dünnen Eisservietten taugen nichts zum Mundabwischen, weil sie gar nicht dafür gedacht sind. Sie sollen verhindern, dass das Geschirr auf dem Tablett klappert. Mit Spuren von Eis um unsere Münder steigen wir ins Auto, Eva wieder auf ihr Fahrrad, und nehmen Abschied von Breckerfeld. Während Italo Pop aus den Boxen dröhnt, scherzen wir: „Italien ist ja gar nicht so weit weg!“ Der Faschismus auch nicht. Zuhause wartet schon der nächste ungeschriebene Text auf mich. Ciao!
Esra Canpalat ist eine aus Kamen stammende Autorin und Literaturwissenschaftlerin aus dem Ruhrgebiet und Preisträgerin des Förderpreises des Literaturpreises Ruhr 2021. Sie schreibt Erzählungen, Essays, Rezensionen, wissenschaftliche Artikel und kulturvermittelnde Texte, wobei ein Themenschwerpunkt autobiografisches Erinnern und dokumentarisches Schreiben und Erzählen ist. Derzeit arbeitet sie an einem Romanprojekt über (post)migrantische Erinnerung und intergenerationelle Traumata. https://esracanpalat.com
Die Fotos für „Vom Rande aus“ stammen vom Duisburger Fotokünstler Fatih Kurçeren. Seine Fotografien versuchen das Ruhrgebiet als einen Ort wahrzunehmen, an dem sich Identitäten und festgefügte soziale Strukturen auflösen. Kurçeren richtet seinen Blick auf die Region und ihre Bewohner:innen. Dazu bewegt er sich an den unscharfen Rändern einer Gesellschaft, deren Mitte ebenso unklar erscheint wie die Fragen nach ihren Normen, nach ihrem Innen und Außen sowie nach dem, was ihr fremd und eigen ist. http://www.fatihkurceren.com
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