Ich bin weder ein- noch ausgestiegen

SÜPERDEPRESYON. Die einsame Kolumne von Lütfiye Güzel

Ich bin weder ein- noch ausgestiegen

Eine Kleinfamilie sitzt mir schräg gegenüber auf dem
Vierersitz. Sie spielt ein Würfelspiel auf dem
Klapptisch. Ohne Unterlage.
Die Leute, zusammengepresst im Zugabteil Klasse 2.
Das Zugabteil Klasse 1 ist vollkommen leer.
Die Gespräche drehen sich im Schnitt um Krankheitsfälle
und Arbeitsverträge.
In meinen Träumen bin ich on the road wie Kerouac.
Frei. Mutig. Schreibe schnelle, radikale Zeilen in mein
Notizbuch und baue mir starke Lebensmodelle zusammen.
Zu anderen Konditionen. In Wirklichkeit aber bin ich unterwegs
in diesem Wohnzimmer auf Schienen, checke
mein Ticket hundertmal, esse mein Butterbrot, trinke meinen Tee
und krame nach meiner Ersatzbrille.
Zwischendrin sehe ich aus dem Fenster und weine ein wenig.
Manchmal werden Träume einfach überholt. Überrollt.
Zitiere mich selbst, weil es sonst niemand tut:
„In der zweiten Klasse fahren Menschen.
In der ersten fahren Sitze.“

Lütfiye Güzel ist eine aus Duisburg stammende Autorin und Dichterin aus dem Ruhrgebiet. Im Jahr 2014 erhielt sie den damals zum ersten Mal vergebenen „Fakir-Baykurt-Kulturpreis“ der Stadt Duisburg. 2017 wurde Güzel mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. Seit 2014 bringt sie Gedichte unter ihrem eigenen Label go-güzel-publishing heraus. Ihre aktuellen Bücher L-ABLA und winterwütendwinter sind 2022 erschienen. In ihren Texten, Gedichten und Kurzprosa, reflektiert sie existenzielle Themen wie Herkunft, Einsamkeit oder Armut, die sie in Beobachtungen des Alltags an sozialen Brennpunkten im Ruhrgebiet einbettet.
 
go-güzel-publishing: https://luetfiye-guezel.tumblr.com

Weitere Folgen:

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#2 Die Angst als Warentrenner
#3 Als Teenager war ich intellektuell
#4 Ach Eule!
#5 Ich bin weder ein- noch ausgestiegen