Vom Rande aus: Ahlen
Vom Rande aus: Ahlen
VOM RANDE AUS. Die Kolumne von Esra Canpalat
Vom Rande aus: Ahlen (Westf.)
Im Winter zieht es viele Menschen in ihre eigenen vier Wände, um Trost in einem guten Buch oder einer Serie zu finden, die sie gefühlt tausendfach schon gesehen haben und mitsprechen können. Auch in unserer WG läuft eine Serie in Dauerschleife: Gilmore Girls, die Geschichte der quirligen jungen Mutter Lorelai und ihrer vernünftigen Tochter Rory, die im verschlafenen Städtchen Stars Hollow versuchen, ihren Alltag zwischen eigenwilligen Bewohner*innen, Schul- und Arbeitsstress sowie Liebeseskapaden zu meistern. Als Jugendliche verfolgte ich aus Kamen jeden Nachmittag begeistert die schlagfertigen Dialoge zwischen Lorelai und Rory. Zur selben Zeit, nur knapp 40 Kilometer entfernt im kleinen Städtchen Ahlen, saß meine Mitbewohnerin Julia ebenfalls vor dem Fernseher. Wir, zwei junge Frauen am Rande des Ruhrgebiets, bekamen nicht genug von der fiktiven Kleinstadt. In Verschlafenheit und skurrilen Menschen standen Kamen und Ahlen Stars Hollow in nichts nach, aber Stars Hollow war eben irgendwie funky oder viel mehr waren es Lorelai und Rory, durch deren popkulturell versierte Augen wir das Kleinstadtleben auf eine ganz andere Weise sahen.
Als ich Julia erzähle, dass meine nächste Kolumnen-Station Ahlen ist, kann sie sich vor Begeisterung kaum halten. „Esra!“, ruft sie aufgeregt. „Lass uns zusammen hinfahren! Und lass uns so tun, als sei Ahlen Stars Hollow!“ Warum nicht, denke ich. Die Kraft der Suggestion hat ja schon in Breckerfeld gut geklappt. Doch die Deutsche Bahn macht uns einen Strich durch die Rechnung. Ich sitze bereits in einer verspäteten Bahn, als Julia mir schreibt, dass alle Züge ausfallen und sie nicht wegkommt. Jetzt muss ich mir ganz allein die Stadt durch die Gilmore Girls-Brille hindurch ansehen. Ich bin so schlecht gelaunt, dass ich beschließe, nicht in die Rolle Rorys zu schlüpfen, denn was ist denn schon eine Rory ohne eine Lorelai (in diesem Fall eine Esra ohne ihre Reiseführerin Julia)? Stattdessen werde ich zu Taylor Doose, dem nervigen Bürgermeister von Stars Hollow, der die Vorkommnisse in seiner Stadt penibelst beobachtet. Der Marktplatz in Ahlen erinnert mich schon etwas an den Town Square in der Serie: Ich laufe an den pittoresken, historischen Häusern und der Bartholomäuskirche entlang, während auf dem Weihnachtsmarkt eifrig an den Ständen und Buden gebaut wird.
Auf Empfehlung Julias gehe ich in das Bürgerzentrum Schuhfabrik, oder das Büz. Seit 1989 werden hier regelmäßig kulturelle Veranstaltungen organisiert. Das würde Taylor missfallen, denke ich. Eine ehemalige Schuhfabrik, die sich weiterhin so nennen darf, obwohl es dort keine Schuhe zu kaufen gibt? Das sorgt doch nur für Verwirrung bei den Tourist*innen! Und dass auch hier viele Jugendliche ihre linke Sozialisierung erfuhren (so auch beispielsweise Julia), würde bei Taylor sicher für Kopfschütteln sorgen. In der Schuhfabrik gibt es auch Gastronomie, einen täglich wechselnden, günstigen Mittagstisch zum Beispiel. Ich treffe mich mit Martin Tollkötter, dem aktuellen Leiter der Schuhfabrik, der mir von der Geschichte des Büz erzählt und den derzeitigen Herausforderungen, ein soziokulturelles Zentrum zu führen. Die Nachwirkungen der Pandemie sind noch zu spüren, und auch die geplanten Haushalts- und Sozialkürzungen werden ihre Auswirkungen auf Ahlen haben.
Resultat von neoliberalen Spar- und Optimierungspolitiken ist auch der geplante Abriss des Ahlener Rathauses. Der Lokaljournalist Dierk Hartleb, der zufällig im Büz sitzt, fasst den Konflikt zwischen der Stadt und der Bürger*inneninitiative „Rathausfreunde Ahlen“ zusammen. Die Initiative wirft der Stadt vor, das marode Gebäude aus den 70er Jahren bewusst über die Jahre nicht instandgehalten zu haben, um einen Neubau zu ermöglichen. Nicht unwesentlich in diesem Streit ist der brutalistische Baustil, der vielfach als hässlich wahrgenommen wird. Hässlich werden diese Gebäude aber vor allem, weil sie durch Einsparpolitiken ihrem eigenen Schicksal überlassen werden, so auch in Ahlen.
Dabei hat der Brutalismus eine tiefere Bedeutung: Er verkörpert das gemeinschaftliche Zusammenleben in einer Gesellschaft der Nachkriegszeit, eine soziale Idee von öffentlichem Eigentum, und stellt somit eine Gegenbewegung zur monumentalen Architektur faschistischer Regime dar. Mit seiner radikalen Offenlegung der Gebäudestruktur und -materialien (daher auch die Entlehnung des Begriffs vom Französischen béton brut, also roher Beton), strebte der Brutalismus nach einer Demokratisierung der Architektur. Doch die Stadt interessiert sich nicht für diese historischen und ideologischen Hintergründe. Die offizielle Begründung für den Abriss lautet – wie so oft bei Debatten um brutalistische Bauten – Nachhaltigkeit. Das Gebäude soll einen zu hohen CO2-Verbrauch aufweisen. Die „Rathausfreunde“ argumentieren hingegen, dass eine Kernsanierung alle Voraussetzungen des Klimaschutzes erfüllen könnte, zumal die Baubranche für 40 Prozent der weltweiten Treibhaus-Emissionen verantwortlich sei. Doch 2020 entschied sich eine deutliche Mehrheit in einem Bürger*innenentscheid für den Abriss. Der neue „Bürgercampus“ wird voraussichtlich rund 100 Millionen Euro kosten, finanziert durch Steuergelder.
Bevor das passiert, möchte ich mir einen genaueren Eindruck von dem gigantischen Baukomplex direkt am Ufer der Werse verschaffen. Ich laufe die Passage entlang, die auf Erdgeschosshöhe seitlich um das Gebäude herumführt, schaue auf das Wasser. Die Piusbrücke, die über den Fluss führte, wurde schon 2013 ersatzlos abgerissen. So etwas hätte es in Stars Hollow nicht gegeben, denke ich. Dort wurde bis zuletzt eine Wohltätigkeitsaktion nach der anderen veranstaltet, um eine alte Brücke zu restaurieren. Wäre Taylor Bürgermeister von Ahlen, hätte er es zugelassen, dass das Rathaus abgerissen wird? Schließlich war die Bewahrung historischer Architektur höchste Priorität für ihn. Aber wäre ein brutalistischer Bau aus den 70ern in seinen Augen überhaupt erhaltenswert? Vermutlich hätten ihn, den Vorsitzenden der Historischen Gesellschaft Stars Hollows, die Grundsätze des Brutalismus auch nicht interessiert, sagte er doch in einer Folge, dass die Faschisten durchaus ihre ‚Fehler‘ hatten, aber makellose Parks gebaut hatten. Auf der anderen Uferseite wurde bereits mit dem Neubau gestartet. Zukünftig soll dort auch ein Bürgerforum integriert werden. Architektonisch stellt der Neubau einen klaren Gegensatz dar, wie auch der Architekt Stefan Rethfeld feststellt: „Hier das gewagte Raumexperiment der 1970er-Jahre, dort die reine Funktionslösung, die einer Architektur der Effizienz das Wort redet. Diese kulturelle Differenz wird der Stadt künftig eingeschrieben sein – ausgerechnet bei ihrem Bürgerforum.“
Ohne Julia macht das hier überhaupt keinen Spaß, denke ich. Ich mache mich auf den Rückweg, laufe durch die fast menschenleere Innenstadt. Wenn ich zuhause ankomme, wird Julia vermutlich wieder in der Küche sitzen und eine weitere Folge Gilmore Girls schauen. Stars Hollow wird weiterhin ein Sehnsuchtsort bleiben. Taylor wird auch weiterhin alles tun, um das historische Erbe seiner Stadt zu bewahren – oder zumindest das, was er für erhaltenswert hält. Wir werden uns fester in unsere Decken kuscheln und darüber lachen. Und Ahlen wird weiterhin Ahlen bleiben, mit dem Unterschied, dass ein Stück Architekturgeschichte und mit ihr die Verkörperung einer sozialeren, gemeinschaftlicheren Gesellschaft unwiederbringlich verschwinden wird.
Esra Canpalat ist eine aus Kamen stammende Autorin und Literaturwissenschaftlerin aus dem Ruhrgebiet und Preisträgerin des Förderpreises des Literaturpreises Ruhr 2021. Sie schreibt Erzählungen, Essays, Rezensionen, wissenschaftliche Artikel und kulturvermittelnde Texte, wobei ein Themenschwerpunkt autobiografisches Erinnern und dokumentarisches Schreiben und Erzählen ist. Derzeit arbeitet sie an einem Romanprojekt über (post)migrantische Erinnerung und intergenerationelle Traumata. https://esracanpalat.com
Die Fotos für „Vom Rande aus“ stammen vom Duisburger Fotokünstler Fatih Kurçeren. Seine Fotografien versuchen das Ruhrgebiet als einen Ort wahrzunehmen, an dem sich Identitäten und festgefügte soziale Strukturen auflösen. Kurçeren richtet seinen Blick auf die Region und ihre Bewohner:innen. Dazu bewegt er sich an den unscharfen Rändern einer Gesellschaft, deren Mitte ebenso unklar erscheint wie die Fragen nach ihren Normen, nach ihrem Innen und Außen sowie nach dem, was ihr fremd und eigen ist. http://www.fatihkurceren.com
Weitere Folgen: