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Vom Rande aus: Hagen

Vom Rande aus: Hagen. Foto: Fatih Kurçeren

Vom Rande aus: Hagen

von: 
Esra Canpalat

VOM RANDE AUS. Die Kolumne von Esra Canpalat

 

Vom Rande aus: Hagen

Dies ist mein letzter Bericht von den Rändern des Ruhrgebiets. Mit ihm schließt sich für mich ein Kreis. Die erste Kolumne schrieb ich letztes Jahr über Kamen, die Stadt, in der ich aufwuchs und in der ich lernte, was es bedeutet, am Rande zu sein. Die letzte schreibe ich über Hagen, eine Stadt, in der jemand ähnliche Lektionen in Randständigkeit machen musste.

Bis auf den Gleichklang der Namen gibt es erst einmal nicht viel, was Hagen und Kamen miteinander verbindet, ist diese Stadt am südöstlichen Rand des Ruhrgebiets doch flächenmäßig und mit seinen knapp 200.000 Einwohner*innen wesentlich größer als Kamen. Das erste Mal hörte ich als Jugendliche von Hagen, als ein Bekannter meinte, dies sei die hässlichste Stadt Deutschlands. Solche pauschalen Beurteilungen von Orten ärgern mich, weil in diesen Reaktionen vor lauter Herkunftssnobismus die historischen und sozialen Zusammenhänge verkannt werden, die Orte zu dem machen, was sie sind, so als gäbe es keine erklärbaren Gründe, warum Menschen an diesen vermeintlich „hässlichen“ Orten landen, leben und bleiben.

Ich könnte über diese „Hässlichkeit“ schreiben. Ich könnte erläutern, wie Hagen von der Lokalpolitik jahrzehntelang heruntergewirtschaftet wurde, hochverschuldet ist und eine hohe Arbeitslosenquote vorweist – allein letztes Jahr durchschnittlich 11,5 Prozent. Ich könnte davon schreiben, wie trotz der Einflüsse des Kunsthistorikers Karl Ernst Osthaus und des Künstlers Henry van de Velde, trotz Osthaus Museum und Hohenhof, trotz Freilichtmuseum und denkmalgeschützten Elbershallen, Hagen irgendwie immer eines der Stiefkinder der Metropole Ruhr geblieben ist.

Ich möchte aber über eine ganz andere Hässlichkeit schreiben, nämlich die, die gar nicht so weit weg ist von der Schönheit. Ich möchte darüber schreiben, wie Miedya und ich in den Bus Richtung Bissingheim steigen. Wie wir auflachen, als wir eine Straße namens „Wasserloses Tal“ entlangfahren, nicht aus Überheblichkeit, sondern weil der Straßenname dieses Nebeneinander treffend beschreibt: Eigentlich im Tal gelegen, eigentlich von vier Flüssen und idyllischen Wäldern umgeben, eigentlich „das Tor zum Sauerland“, aber für manche eben auch das Tor zur Hölle, für manche eine riesige, niemals zusammenwachsende Wunde.

Es liegen nur wenige Kilometer zwischen Innenstadt und Emst, dem Viertel, in dem Miedya their Jugend verbrachte. Trotzdem verstehe ich, was Miedya meint, wenn they sagt, they habe sich immer gewünscht, zentraler zu wohnen. Vorstadt und Kleinstadt teilen sich denselben Kreis der Hölle, denke ich. Während wir durch die Straßen schlendern, verschiedene Stationen in Miedyas Leben ablaufen, werden mir die Ähnlichkeiten zwischen Emst und dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, deutlich. Wohnblocks mit Plattenbauten, identisch aussehende Mehrparteienhäuser, die wie in einer Kette aneinandergereiht lange Straßenzüge flankieren, dazwischen immer derselbe Abstand von Grünfläche und Parkplatz. Und daneben, teilweise direkt angrenzend, verklinkerte Einfamilien- und Reihenhäuser mit den berühmt berüchtigten Gärten des Grauens. Ich kenne die unmittelbare Nähe von Arbeiterklasse und Bürgertum bereits aus Kamen. Obwohl ein Altersunterschied von knapp einem Jahrzehnt zwischen uns liegt, klingt die Zeit, von der Miedya spricht, nicht sonderlich anders als meine Jugend. Eine Zeit, die sich anfühlte, als würde sie niemals vorübergehen – und vielleicht ist sie das tatsächlich nicht.

Für mich ist die Zeit nie stehengeblieben, sie ist immer gelaufen und sie läuft immer noch weiter. Doch es gibt Momente, wo sie rückläufig ist, wo sie zu den Zeitpunkten zurückspringt, auf die so viele meiner Ängste zurückführen. Gleichzeitig waren Miedya und ich der Zeit ja immer voraus, in der Art, wie wir uns bereits in jungen Jahren zu artikulieren wussten – oder eher mussten –, wie wir uns verteidigten, und manchmal nichts sagten, nicht, weil der Klügere nachgibt, sondern weil wir zum Schweigen gebracht wurden. Wir waren der Zeit voraus, und trotzdem wurde sie uns ständig gestohlen.

Wir gelangen zu einem Feldweg. In der Ferne sind Windräder zu sehen, das Rauschen der Autos auf der A45 zu hören. Ein mir allzu bekanntes Setting: Ich erinnere die stundenlangen Spaziergänge, die Traurigkeit und die Wut, die ich ständig in meinem Bauch trug wie einen heißen Stein, der sich durch meine Magenwand durchbrannte, weil ich wieder einmal an den Rand gestellt wurde, und zwar für nichts anderes als der Zeit voraus sein zu müssen. Es ist ein sonniger Herbsttag, das gelblich-braune Laub knuspert unter unseren Füßen. Das Wetter steht im deutlichen Kontrast zu Miedyas Erinnerungen. Aber vielleicht ist es ja tatsächlich kein so großer Gegensatz. Vielleicht offenbart sich die Nahtlosigkeit von Schönem und Grausamem im Hellen umso besser.

Durch das Dickicht der Bäume im Waldstück, durch das wir irgendwann spazieren, sind vom Weiten einzelne, große Häuser zu erkennen, abgeschottet, ruhig und beschaulich. Wie unterschiedlich doch die Ränder aussehen können. Ich sage: „Aber schön ist es hier ja schon.“ Miedya sagt: „Das Idyll der einen ist der Alptraum der anderen.“ Ich muss an Sartres berühmten Satz „Die Hölle, das sind die anderen“ denken. Und die anderen, das waren für uns oftmals jene, deren Blicke starrer waren als die kalten Fassaden ihrer Häuser, deren Blicke versuchten, uns zu versteinern, mehr noch als ihre Vorgärten.

Aber die Zeit, sie läuft ja weiter, auch wenn sie mit Blick auf das Weltgeschehen und auf Deutschland wieder rückläufig zu sein scheint. Und diese Zeit, sie brachte mich doch auch mit Miedya zusammen. Es ist die Zeit, in der die Blicke und die Worte immer kälter werden, und ich mich gleichzeitig meinen Liebsten so nah fühle wie nie zuvor. Wir besuchen den Kiosk, der einst Miedyas Familie gehörte, setzen uns auf die Plastikbank vor dem Gebäude, Miedya mit einer Dose Cola, ich mit einer gemischten Tüte für einen Euro. Uns fällt ein Aufkleber am Schaufenster auf, auf dem sich gegen das Gendern ausgesprochen wird. Wir überkleben ihn mit einem Sticker von House of Namus. Wir sitzen, wir kauen auf weichem Weingummi, das uns zwischen den Zähnen kleben bleibt. Wir blicken auf eine Welt, die uns nicht haben will. Aber es ist eine Welt, die von uns zusammengehalten wird. „The world is held together, really it is held together, by the love and the passion of a very few people”, hat James Baldwin einmal gesagt. Wie unterschiedlich und gleichermaßen ähnlich die Ränder doch aussehen können. Sie sind es, die uns einander bekannt gemacht haben. Wir bleiben noch eine Weile auf der Bank sitzen. Die Zeit läuft weiter, die Sonne geht langsam unter. Wir halten weiter die Welt zusammen.

 

Esra Canpalat ist eine aus Kamen stammende Autorin und Literaturwissenschaftlerin aus dem Ruhrgebiet und Preisträgerin des Förderpreises des Literaturpreises Ruhr 2021. Sie schreibt Erzählungen, Essays, Rezensionen, wissenschaftliche Artikel und kulturvermittelnde Texte, wobei ein Themenschwerpunkt autobiografisches Erinnern und dokumentarisches Schreiben und Erzählen ist. Derzeit arbeitet sie an einem Romanprojekt über (post)migrantische Erinnerung und intergenerationelle Traumata. https://esracanpalat.com

Die Fotos für „Vom Rande aus“ stammen vom Duisburger Fotokünstler Fatih Kurçeren. Seine Fotografien versuchen das Ruhrgebiet als einen Ort wahrzunehmen, an dem sich Identitäten und festgefügte soziale Strukturen auflösen. Kurçeren richtet seinen Blick auf die Region und ihre Bewohner:innen. Dazu bewegt er sich an den unscharfen Rändern einer Gesellschaft, deren Mitte ebenso unklar erscheint wie die Fragen nach ihren Normen, nach ihrem Innen und Außen sowie nach dem, was ihr fremd und eigen ist. http://www.fatihkurceren.com

 

Weitere Folgen:

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